Dativ- anstatt Genitivkonstruktionen, Probleme bei der Verwendung von Satzzeichen sowie Zeitenfolge, Unsicherheiten bei Phraseologismen und festen Fügungen, weniger Wörter mit lateinisch-griechischen Wurzeln, dafür mehr Anglizismen: Zu diesem Ergebnis ist das Forscherteam um die österreichische Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak (Bild rechts) in der Pilotstudie gekommen. In der Studie wurden 138 Maturaarbeiten (dem deutschen Abitur entsprechend) aus je einem Wiener Innen- und Außenbezirk sowie einer Schule aus Graz aus den Jahren 1970, 1997 und 2010 miteinander verglichen. „Nüchtern betrachtet ist die Fehlerzahl in den Maturaarbeiten insgesamt deutlich gestiegen“, heißt es in der Studie „Wandel der Sprache: Verfall, Veränderung oder Wachstum“. Aufgrund der beschränkten Datenmenge könne man allerdings lediglich „von Indizien“ sprechen.
Insgesamt gesehen sei die Länge der Texte im Verlauf der Jahre kürzer, der Satzbau hingegen komplexer geworden. Dies zeige sich in der Vielzahl der Relativsätze oder der untergeordneten Sätze. Außerdem sei die Benotung der Lehrer nicht so streng wie damals. So sei in der Notengebung „mehr Toleranz für fast alle Arten von Fehlern feststellbar, insbesondere Satzzeichen, Rechtschreibung, Ausdruck“, sagt Wodak.
Des Weiteren ist der Linguistin und Professorin für Sprachwissenschaften an der Universität Wien und an der Lancaster University aufgefallen, dass den Schülern im Vergleich zu früher die korrekte Interpunktion große Schwierigkeiten bereitet. Dies sei jedoch nicht als allgemeines Problem mit der Sprache zu verstehen. Die Interpunktion hänge sehr vom jeweiligen Unterricht ab und setze weniger allgemeine Sprachkompetenz als vielmehr explizites Regelwissen voraus.
Ein weiterer Punkt, der den Wissenschaftlern ins Auge stach, sei der enorme Rückgang von Lehnwörtern mit lateinisch-griechischen Wurzeln, während Anglizismen Eingang gefunden haben. Die verbreitete Verwendung von Anglizismen sei unter anderem auf die technischen Innovationen zurückzuführen. „Dies deutet auf ein Zurücktreten der Bildungssprache als stilistischer Orientierungspunkt für das Deutsche hin; diese Rolle wird zunehmend von der Umgangssprache erfüllt“, schlussfolgern die Sprachwissenschaftler. Diese Annahme werde dadurch verstärkt, dass Redewendungen und feste Fügungen immer weniger verwendet werden und, wenn sie doch vorkommen, fehlerhaft benutzt werden. Beispiel: „Es liegt jedem frei“, „nichts als die Wahrheit nennen“ oder „die Möglichkeit besitzen“.
Darüber hinaus manifestiere sich der Genitivschwund. „Das ist im österreichischen Deutsch ja im Prinzip auch okay. Zum Beispiel sagt man ‚Die Zunahme von den Problemen‘ statt wie früher auf Hochdeutsch ‚Die Zunahme der Probleme‘.“ Bei diesem Phänomen seien Elemente des österreichischen Deutsch zu erkennen. „Es gibt hier einen Wandel, den wir seit 1945 beobachten, ein Abgrenzungsphänomen im Zuge der österreichischen Identitätsbildung: Es gibt eine Fokussierung auf das sogenannte österreichische Deutsch. Der Genitivschwund wird also als Norm akzeptiert. Das ist ein akzeptierter Wandel, begründet durch die Identitätsbildung ab 1945. Es ist interessant und wichtig, solche Bezüge herzustellen“, erklärt die Ruth Wodak.
Ob diese Entwicklung, auch die der fehlerhaften Zeitenfolge, an fehlender Disziplin vonseiten der Schüler liegt, beantwortet sie wie folgt in einem Interview mit dem Standard:
Die Zeitenfolge hat sich überall, auch in anderen Sprachen, verflacht. Zeitenfolge, Konjunktivbildung – der richtige Gebrauch solcher grammatischer Elemente ist in vielen Bereichen zurückgegangen. Auch im Englischen oder im Französischen. Wir sind in unserem Sprachverhalten insgesamt „mündlicher“ geworden. Es gibt natürlich noch sehr formale Situationen: Formbriefe, Prüfungen, Zertifikate, das ist klar. Insgesamt ist man aber heutzutage dialogischer und adressatenorientierter. Das ist daher wirklich spannend, wenn man Geschäftsbriefe oder Geschäftsberichte von früher mit den heutigen vergleicht. Heute werden Kundinnen und Kunden persönlich angesprochen. Früher war das ein trockener und sachlicher Bericht.
Auf die Frage „Sie haben auch herausgefunden, dass es heute mehr Bindestrich-Komposita „im Stil der ‚Kronen Zeitung'“ gibt. Was genau kann man darunter verstehen?“ antwortete sie Folgendes:
Es werden mehr Bindestrich-Komposita verwendet und dadurch auch neue Begriffe geschaffen. „Kinderporno-Verdacht“ ist ein gutes Beispiel. Eigentlich meint man damit „Verdacht auf Kinderporno“. Die Zuordnung ist bei diesen Bindestrich-Komposita oft nicht so ganz einfach. Es ist manchmal schwierig festzustellen, welche Präposition durch einen Bindestrich quasi ersetzt wurde: Verdacht für, auf, zu …? Das ist eine Verkürzung, die man erst richtig entschlüsseln muss.
Das Interview können Sie hier in voller Länge lesen.
„Oft herrscht diese Angst vor, dass die Sprache untergeht. Das stimmt so nicht, sondern sie wird anders.“ Das bringe auch viele Vorteile, berichtet die 61-Jährige.
Die Studie war Teil einer umfassenderen, privat beauftragten Untersuchung, bei der neben dem veränderten Sprachgebrauch in der Schule auch jener in Medien anhand von Artikeln der Austria Presse Agentur (APA), der Presse und der Kronen Zeitung und in Geschäftsberichten analysiert wurde.
[Text: Jessica Antosik. Quelle: derstandard.at, 10./24.04.2012. Bild: ling.lancs.ac.uk.]