Latein muss sein: Ein Plädoyer für Latein als Schulfach

Seit einigen Wochen wird heiß über das traditionsreiche Schulfach Latein diskutiert. Eltern, Arbeitgeber und Wissenschaftler fordern ein moderneres Fremdsprachenangebot. Ihrer Ansicht nach wird die „tote“ Sprache an vielen Schulen Deutschlands zu unrecht wie ein Heiligtum gepflegt. Sie raten von Latein ab. Es sei vertane Zeit, Lateinvokabeln zu paukeln. Die Schüler sollen angesichts der globalisierten Wirtschaftswelt lieber Spanisch oder Chinesisch erlernen statt Latein. Die Schüler hätten dadurch viel bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, erklären die Latein-Gegner. Die Arbeitgeber benötigen keine Arbeitnehmer, die den Ablativus absolutus beherrschen.

„Unser modernes Wirtschaftsleben ist auf den Austausch mit anderen Ländern ausgerichtet. Viele Wirtschafts-Partner sitzen in Osteuropa, Asien und Lateinamerika. Und viele Kunden, auch im Inland, sprechen nicht Deutsch. Wir brauchen Beschäftigte, die die Sprachen dieser Menschen sprechen“, sagt Barbara Dorn von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Sogar der Vorsitzende des Altphilologenverbandes, Bernhard Zimmermann, räumt ein: „Wer Richtung Wirtschaft denkt, ist mit ausgefallenen Sprachen wie Arabisch oder Chinesisch besser beraten.“ Dr. Ilse Führer-Lehner von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft äußert sich ebenfalls kritisch über die Sprache Latein: „Es fehlen Anwendungsmöglichkeiten und somit der praktische Nutzen, der Kinder den Sinn des Lernens erschließen lässt.“

Auch das Latinum als Zulassungsbeschränkung für einige Studienfächer in Deutschland halten viele für unnötig und lediglich als Qual für die Studierenden, da ihnen das Latinum im Studium kaum weiterhelfe. Doch es scheint, dass der Hang zur klassischen Sprache ein deutsches Phänomen ist. „In Frankreich lernt vielleicht ein Prozent der Schüler Latein, in Bayern sind es 50 Prozent der Gymnasiasten“, sagt Mario Oesterreicher, Präsident des Gesamtverbandes Moderne Fremdsprachen.

Kommen wir nun zu den Vorteilen, die Latein als Schulfach mit sich bringt. Insbesondere im Lateinunterricht lernen die Schüler systematisches Sprachenverständnis. Dabei trainieren sie ihren analytischen Blick für das Funktionieren von Sprache im Allgemeinen. Dies hilft enorm beim Lernen weiterer Fremdsprachen. Latein fördert das logische Denken und schult das Arbeitsgedächtnis. Aus diesem Grund fordern die Latein-Verfechter: „Latein muss sein!“ Latein sei eine Reflexionssprache, mit deren Hilfe man über andere Sprachen nachdenken kann. Da Latein viel Geduld und Disziplin erfordere, helfe auch dies im späteren Leben.

Mit einem Verzicht auf Latein würde den Schülern außerdem ein großer Teil des europäischen Erbes vorenthalten. Latein sei historische Kommunikation, sagen die Lateinlehrer. Nach neuesten Erkenntnissen wirken sich Lateinkenntnisse positiv auf das Erlernen und Verstehen des Deutschen aus. Viele sind der Ansicht, dass Latein gar keine „tote“ Sprache ist. Der Grund: Wir sprechen Latein täglich, allerdings seien sich die meisten darüber gar nicht bewusst. Nase, Transport, Nivea – das sind alles Wörter, die aus dem Lateinischen stammen. Somit erleichtere Latein es vor allem, Fremdwörter im Deutschen zu verstehen.

Ein weiterer Pluspunkt für Latein liegt auf der Hand: Lateinkenntnisse erleichtern das Lernen romanischer Sprachen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Latein die Mutter dieser Sprachen ist und deshalb immer noch große Ähnlichkeiten zwischen den heutigen romanischen Sprachen wie Französisch, Spanisch, Italienisch und Latein vorhanden sind. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: „singen“ heißt auf Lateinisch „cantare“, auf Italienisch ebenfalls „cantare“, auf Spanisch „cantar“, auf Französisch „chanter“. Darüber hinaus erleichtern Lateinkenntnisse den Zugang zu Englisch. Zwar zählt Englisch nicht zum romanischen Zweig, sondern ist germanischen Ursprungs, aber der Anteil lateinischer Wörter im gehobenen Englisch beträgt mehr als 60 Prozent. Beispiel: „education“, „opinion“, „virtue“.

Zwar erlebt Latein nach wie vor einen Boom, allerdings wird die Sprache der Römer allmählich von Spanisch aufgeholt. Allein die Zahl der Schüler in Nordrhein-Westfalen, die in der Schule Spanisch lernen, hat sich in zehn Jahren auf 120 000 fast vervierfacht.

Eine Möglichkeit, die Diskussion zu beenden, könnte darin bestehen, nicht von Spanisch oder Chinesisch statt Latein, sondern von Spanisch bzw. Chinesisch und Latein zu sprechen.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: derwesten.de, 23./25.04./03.05.2012. Bild: aewolf, Lizenz: CC-BY.]