Ingesamt werden in Europa mehr als 200 Sprachen gesprochen. In der Europäischen Union sind derzeit 23 Amtssprachen bei 27 Mitgliedsstaaten zugelassen. Doch wenn die Eliten sich unterhalten, dann sprechen sie das globale Englisch. Lediglich im Alltag finden die Nationalsprachen Anwendung. Das ist zumindest die Meinung des deutschen Sprachwissenschaftlers Jürgen Trabant (Bild rechts), die in einem kürzlich veröffentlichten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich wird.
Artikel 22 der Charta der Grundrechte der EU aus dem Jahr 2000 besagt Folgendes: Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen. Der Vertrag von Lissabon von 2007 stellt in Artikel 2 fest, die Europäische Union wahre den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas. Die EU hielt die Mehrsprachigkeit sogar für so wichtig, dass ein Kommissariat für Mehrsprachigkeit ins Leben gerufen wurde. Seit der letzten Neubesetzung der Kommission wurde das Sprachen-Kommissariat allerdings wieder abgeschafft und ist nun Teil des Kultur-Kommissariats.
Bereits seit langem lautet die offizielle sprachpolitische EU-Empfehlung, dass jeder Europäer drei Sprachen lernen soll: seine Muttersprache und zwei Fremdsprachen. Die Realität sieht jedoch anders aus, da die Europäer immer weniger einsahen, warum sie eine zweite Fremdsprache lernen sollten, wenn sie mit Englisch alle kommunikativen Bedürfnisse befriedigen können. Faktisch gesehen lernten und lernen die Europäer abgesehen von ihrer Muttersprache meist Englisch und in den seltensten Fällen eine weitere Fremdsprache.
Doch die Sprachen Europas kosten die EU dementsprechend viel Geld: Der Übersetzungs- bzw. Dolmetschdienst des europäischen Parlaments und das Recht jedes EU-Bürgers, in seiner Sprache mit den europäischen Institutionen zu kommunizieren, führen zu Kosten, die etwa ein Prozent des Gesamtbudgets der Europäischen Union betragen. 2004 waren das rund 2,28 Euro pro Bürger.
In Ländern Nordeuropas und in Deutschland wird jedoch eine Politik der sprachlichen Vereinheitlichung des Kontinents betrieben. Die Anglisierungskampagne durch die nationalen Erziehungsinstitutionen erstreckt sich vom Englischen im Kindergarten bis zur Universität. Jürgen Trabant schreibt in dem Artikel: Die Propaganda kommt nicht aus der EU, sondern aus den von der Wirtschaft gedrängten Nationen, sie ist im Wesentlichen ökonomisch, nicht politisch oder kulturell, sie ist global und nicht europäisch. [ ] Englisch wird bei dieser sprachlichen Vereinheitlichung des Kontinents kein Identifikationssymbol für Europa sein.
Diese Entwicklung bedeutet nicht, dass die Nationalsprachen sofort verschwinden. Schließlich werden die Bürger Europas zunächst einmal zweisprachig. Die Menschen kommunizieren mit ihrer neuen Verkehrssprache in ganz Europa. Das ist einerseits erfreulich. Andererseits sehen die Folgen für die Nationalsprachen nicht so positiv aus. Es ist nämlich mit einer Diglossie zu rechnen, in der in den hohen und wichtigen Diskursen zunehmend die hohe Sprache Englisch benutzt wird und unten, im Alltag und bei weniger wichtigen Anlässen, die Nationalsprachen. Damit einher geht ein Absinken des Prestiges der Nationalsprachen. Das hat wiederum zur Folge, dass die Europäität der europäischen Sprachen gelöscht wird. Die Sprachen werden letztlich lokal und provinziell. Von einer harmonischen Koexistenz der Sprachen in Europa kann da nicht mehr die Rede sein. Durchaus denkbar ist demnach eine sprachliche Vereinheitlichung.
Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, das Englische als Verkehrssprache wieder abzuschaffen. Die Frage ist vielmehr, eine funktionale Aufteilung zwischen dem Englischen und den anderen Sprachen zu finden, die die alte Europäität nicht zerstört. Vorbild dafür könnte der Umgang der römischen Eliten mit ihrer lateinisch-griechischen Zweisprachigkeit sein, die bei aller Bewunderung des höheren Griechischen ihr altes Latein bewahrt und kulturell aufgewertet haben.
Englisch ist zu erlernen, aber auf seine internationale Kommunikationsfunktion zu reduzieren. Es soll ein nützliches Hilfsmittel, eine Verkehrssprache sein, die die alten Sprachen aus den wichtigsten Diskursdomänen nicht vertreibt. Diese funktionale Einschränkung des Englischen bei gleichzeitiger Pflege der alten Nationalsprachen ließe dann genügend Zeit, um sich auf eine weitere europäische Sprache F2 einzulassen, so Trabant. Ziel des Sich-Einlassens auf fremde Sprachen könnte, wie Hegel einmal gesagt hat, das Adoptieren einer anderen Weltansicht sein.
[Text: Jessica Antosik. Quelle: faz.net, 19.10.2012. Bild: jacobs-university.de.]