Mehrsprachige technische Dokumentation: Übersetzer nur noch Rädchen im Getriebe

ZahnräderWie in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft hat sich die Welt des Übersetzens in den beiden letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Dies betrifft in erster Linie Übersetzungen für die Industrie. Noch herrscht bei der Mehrheit der Auftraggeber und Bildungseinrichtungen sowie bei weiteren Beteiligten die Vorstellung, dass Übersetzer Dokumente vollständig von einer Sprache in eine andere übertragen. Sie steuern den Vorgang des Übersetzens und kontrollieren die Übersetzungsdatenbanken und die Terminologie.

Übersetzer: Vom Kunsthandwerker zum Fließbandarbeiter

Ist das wirklich so? Die Wirklichkeit ähnelt eher einer Fließbandarbeit, bei der Komponenten zusammengesetzt werden. Diese Komponenten heißen Bausteine oder Segmente. Unterschiedliche Menschen haben sie zu unterschiedlichen Zeiten erstellt oder verarbeitet. Es handelt sich dabei zuerst einmal um Textmodule in der Ausgangssprache. Redaktionssysteme verwalten diese Module in einer Datenbank und kombinieren sie nach Bedarf zu einer neuen Dokumentation. Einzelne Module entstammen der Feder verschiedener Redakteure, die nicht alle den gleichen Stil pflegen und immer wieder unterschiedliche Fachtermini einsetzen.

Qualitätssicherung tut Not

Mit Ausnahme weniger Unternehmen, die entsprechende Qualitätssicherungsmaßnahmen umsetzen, ist das Ergebnis relativ uneinheitlich. Das betrifft sowohl die Sprache (Stil und Terminologie) als auch die Information selbst (Struktur und Gehalt). Die automatisch zusammengesetzten Module enthalten oft Informationen, die nicht bis ins letzte Detail zum beschriebenen Produkt passen.

Das Redaktionssystem exportiert die noch nicht übersetzten Module. Aus Altübersetzungen unterschiedlicher Herkunft und Qualität sowie eventuell aus maschinell vorübersetzten Sätzen soll der Übersetzer eine „gute“ Übersetzung produzieren. Diese wird wiederum mit bereits zu einem früheren Zeitpunkt übersetzten Modulen zusammengefügt.

Obwohl inzwischen eine wachsende Zahl von Unternehmen nach diesem Modell arbeitet, handeln und arbeiten die meisten Akteure immer noch nach überholten Konzepten. Sie erwarten am Ende des Prozesses ein homogenes Ergebnis und machen den Übersetzer für das Gesamtergebnis verantwortlich.

Durch Translation-Memory-Systeme Gefahr der Heterogenität

Interessant sind in diesem Zusammenhang Veränderungen im Mix der Quellen für wiederverwendbare Übersetzungen. In den ersten Jahren von Translation Memory Systemen (TMS) stammte noch ein wesentlicher Teil der wiederzuverwendenden Segmente vom selben Übersetzer. Die TMS-Technologie war ja noch nicht sehr verbreitet.

Mit der Zeit wuchs die Anzahl der Übersetzer, die zum Topf von übersetzten Segmenten beitrugen. Da viele Unternehmen für die gleiche Sprachkombination mehrere Übersetzer oder Übersetzungsagenturen einsetzen, kann ohne Pflegepolitik ein sprachlicher und qualitativ relativ heterogener Bestand entstehen.

Maschinelle Übersetzungen

In den letzten paar Jahren haben zwei Entwicklungen diesen Trend verschärft. Die Erste betrifft das maschinelle Übersetzen, das in die Welt des Fachübersetzers Einzug gefunden hat. Die Verschmelzung von computergestütztem und maschinellem Übersetzungssystem in den gängigen TMS führt dazu, dass Übersetzer nicht immer unterscheiden zwischen Übersetzungsvorschlägen, die von einem Übersetzer oder von einer Maschine stammen.

Webbasierte Übersetzungstechnologien (Cloud)

Die andere Entwicklung steckt noch in den Anfängen, wird aber zunehmend an Einfluss gewinnen. Mit der Verbreitung webbasierter Übersetzungstechnologien („Cloud translations“) wächst auch die Zahl der Übersetzer, die andere Qualifikationen und Ausbildungen haben.

Viele Anbieter und Anwender von Cloud-Technologien für Übersetzungen sind durchaus professionell und seriös. Jedoch ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass derart aufgefüllte Übersetzungsdatenbanken ohne Qualitätssicherungsmechanismen sich zu einer Art „globaler Blackbox“ entwickeln können.

Hieronymus
Der heilige Hieronymus als Schutzpatron der Übersetzer: Würde er sich angesichts der heutigen Übersetzungspraxis im Grabe umdrehen?

Übersetzen gleicht industrieller Montagearbeit

Um es kurz zusammenzufassen: Das Übersetzen, das in früheren Jahren die Kunst eines Einzelnen war, mausert sich zunehmend zu einer industriellen Montagearbeit. Dabei sollen Komponenten (Sätze und Module), die unter sehr unterschiedlichen Bedingungen entstanden sind, zu einem qualitativ akzeptablen Ganzen zusammengefügt werden. Daher ist die Frage berechtigt: „Kann man das heutige Übersetzen wirklich noch „Übersetzen“ nennen?“

Übersetzungen sind Endergebnis einer Produktionskette

Was bedeutet dies konkret für die Vorbereitung und Organisation von Übersetzungen? Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass eine Übersetzung ein Dokument ist, das ein Autor geschrieben hat und ein Übersetzer übersetzt. Eine Übersetzung ist das Endergebnis einer Produktionskette, an der eine Vielzahl von Akteuren wie Autoren, Entwickler, Übersetzer und Lektoren teilhaben.
Teilweise sind diese Akteure zum Zeitpunkt der Erstellung der Übersetzung nicht oder nicht mehr bekannt. Wer hat beispielsweise vor 5 Jahren einen bestimmten Satz in einer Übersetzungsdatenbank gespeichert? Diese Akteure arbeiten nicht gleichzeitig, sondern produzieren oder verarbeiten Dokumentenmodule oder einzelne Übersetzungssegmente der Reihe nach.

Wie beim Bau eines Hauses oder bei der Konstruktion eines Geräts kann das Ergebnis nur zufriedenstellend sein, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Es gibt klar definierte und messbare Anforderungen an die Qualität der Texte und der Übersetzungen.
  • Gleichartige Elemente sollen austauschbar sein. Das setzt die Festlegung von Austauschstandards und den Einsatz von Tools, die diese Standards unterstützen, voraus
  • (z. B. XLIFF für Übersetzungsdateien oder TBX für Terminologien).
  • Es gibt Verfahren und möglichst auch Tools, die gewährleisten, dass (1) der zu übersetzende Text qualitativ in Ordnung ist und (2) die endgültige zusammengesetzte Übersetzung (d. h., das was die Übersetzungsagentur bearbeitet hat zzgl. der bereits vorhandenen übersetzten Module aus dem Redaktionssystem) ebenfalls diesen Qualitätsanforderungen entspricht.
  • Es gibt eine für alle Beteiligten verbindliche Fachterminologie, die fortlaufend aktualisiert wird.

Redaktionsleitfaden und TM-Pflege unerlässlich

Für Autoren heißt dies u. a. die Anwendung eines Redaktionsleitfadens, in dem Informationsstruktur, Schreibstil und Terminologie definiert sind. Für Übersetzer bzw. Übersetzungsunternehmen heißt es, dass sie Translation Memories regelmäßig überprüfen und nachträgliche Terminologieänderungen bzw. -erweiterungen in diese Translation Memories einarbeiten. Auch bedeutet dies ein gemeinsames Erarbeiten einer mehrsprachigen Terminologie mit den Auftraggebern.

Anteil der Übersetzungstätigkeit am Gesamtprozess wird geringer

Dadurch ändert sich die Tätigkeit einzelner Übersetzer und Übersetzungsunternehmen grundlegend. Die Zeit, die in die Organisation des Produktionsprozesses, in den Aufbau von Terminologie, in die Qualitätssicherung oder in die Pflege der Arbeitsmittel (wie Translation Memories) fließt, nimmt tendenziell zu. Dagegen nimmt die reine Übersetzungstätigkeit im Verhältnis zu der Gesamtleistung ab.

Noch basieren die heutigen Abrechnungsmodelle auf der Abrechnung der reinen Übersetzung. Damit aber die Vorteile einer wachsenden Automatisierung des Übersetzungsprozesses nicht auf Kosten der Qualität erzielt werden, müssen Firmen und Übersetzer in die Erstellung und Pflege der benötigten Arbeitsmittel (d. h. Translation Memories und Fachterminologien) investieren.

[Text: D.O.G. Dokumentation ohne Grenzen GmbH. Quelle: D.O.G. news 1/2013, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung durch Dr. François Massion. Bild: arahan / Fotolia.de; Michelangelo Merisi da Caravaggio (Ausschnitt, um 1606), gemeinfrei.]

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