„Am Anfang der Offensive stand eine Rede. Mustafa Kemal, später Atatürk genannt, der Begründer der modernen Türkei, hielt sie im Sommer 1928. Sie war der Auftakt zu einem wahren Kraftakt, zu einer Reform, an deren Ende ein Neutürkisch per Verordnung stand, eine Sprache, die mit dem vorher von der Elite gesprochenen osmanischen Türkisch nur etwa 70 Prozent des Wortschatzes gemein hatte.“ Das schreibt die österreichische Tageszeitung Die Presse, die in einem Artikel die groß angelegte Sprachreform in der Türkei beleuchtet.
Deren Kernpunkte waren:
- Wechsel vom arabischen zum lateinischen Alphabet. Dadurch wollte Kemal die Türken von den ihnen „unverständlichen Zeichen erlösen, die seit Jahrhunderten unsere Gehirne in ihren eisernen Fesseln gefangen halten“.
- Inhaltliche Bereinigung des Wortschatzes. Die „Türkische Sprachgesellschaft“ erhielt den Auftrag, tausende Lehnwörter zu tilgen, die arabischen oder persischen Ursprungs waren und sie durch Wörter aus den türkischen Dialekten zu ersetzen. Letztendlich stieg dadurch in der Schriftsprache der Anteil der türkischen Wörter von 35 bis 40 Prozent auf 75 bis 80 Prozent.
Schriftumstellung innerhalb eines Monats
Schulen und Zeitungen mussten innerhalb eines Monats von der bis dahin verwendeten arabischen Schrift auf das lateinische Alphabet umstellen. Insgesamt wurden für die vollständige Umsetzung der Schrift- und Sprachreform zehn Jahre veranschlagt.
„Es war eine unglaubliche Umwälzung, mit der die Kluft zwischen der Oberschicht und der Landbevölkerung geschlossen und das Land Richtung Westen geöffnet werden sollte“, heißt es in dem Artikel. Die arabische Schrift galt als Ursache für einen weit verbreiteten Analphabetismus. Zudem war in der Sowjetunion kurz zuvor die lateinische Schrift für Turksprachen eingeführt worden und man wollte den Kontakt zu diesen Völkern halten.
Im Rückblick erscheint die Aktion als grandioser Erfolg und „wesentliche Voraussetzung für die soziale Entwicklung und Demokratisierung der Gesellschaft, für die Teilhabe des Volkes an Bildung und Mitsprache“, wie es das Gymnasium Istanbul (İstanbul Lisesi) formuliert, an dem sowohl türkische wie auch deutsche Lehrer unterrichten.
Wortschatz verarmt, Zugang zu osmanischer Literatur geht verloren
Der Sprachwissenschaftler Geoffrey Lewis (1920-2008), der an der Universität Oxford Professor für die türkische Sprache war, wies aber auch auf die negativen Auswirkungen hin:
- Für zahlreiche aus dem Arabischen und Persischen entlehnte Wörter sei nie ein adäquater Ersatz gefunden worden. Die Sprache sei dadurch verarmt.
- Die Einführung der lateinischen Schrift sei einhergegangen mit dem „Verlust des Zugangs zur gesamten bis dahin geschriebenen Literatur aus osmanischer Zeit“. Tatsächlich können die meisten Türken heute Briefe ihrer Großeltern und Urgroßeltern, die vor 1930 geschrieben wurden, nicht mehr lesen.
Durch den radikalen Bruch vergrößerte sich die Distanz zur osmanischen und islamischen Vergangenheit der Türken. Der Trend zur Säkularisierung setzte sich fort.
Den genannten Zeitungsartikel können Sie auf der Website der Presse lesen.
[Text: Richard Schneider. Quelle: Die Presse, 2014-05-10. Bild: gemeinfrei (Wikipedia).]