Der Freiburger Übersetzer und Buchhändler Ulrich Pröfrock erhält für seine herausragende Übertragung von Christophe Blains und Abel Lanzacs Comic Quai d’Orsay – Hinter den Kulissen der Macht den diesjährigen Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis.
Freundeskreis Literaturübersetzer und Wieland-Stiftung ehren erstmals Comic-Übersetzer
Der Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen und die Christoph-Martin-Wieland-Stiftung hatten den Preis in diesem Jahr erstmals für die Übersetzung eines Comics oder einer Graphic Novel ausgeschrieben. Der mit 12.000 Euro dotierte Preis wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg finanziert.
„Im besten Sinne aufklärerisch“
„Christoph Martin Wieland konnte damals zwar keine Comics lesen“, erläutert Jutta Heinz, die für die Christoph-Martin-Wieland-Stiftung beratend an der Jury-Entscheidung beteiligt war. „Er hat aber zeit seines Lebens großen Wert darauf gelegt, dass seine eigenen Werke mit ästhetisch ansprechenden Illustrationen anerkannter zeitgenössischer Künstler erschienen. Quai d’Orsay hätte ihm aus mehreren Gründen gefallen können: Es zeigt, wie viele seiner eigenen Werke, auf satirische und unterhaltende Weise die Hintergründe politischen Handelns und wirkt dadurch im besten Sinne aufklärerisch.“
Manipulativer Einsatz der Sprache im Tauziehen der Mächtigen
Dr. Nathalie Mälzer, Übersetzerin und Trägerin der Heyne-Juniorprofessur für Transmediale Übersetzung an der Universität Hildesheim, begründet die Entscheidung der fünfköpfigen Jury:
Ulrich Pröfrock zieht bei seiner Übersetzung alle sprachlichen Register, um die abrupten Wechsel zwischen offiziellem Diplomatenjargon und inoffizieller Phrasendrescherei, zwischen politischem Diskurs, kultureller Prahlerei und alltäglichem Kleinklein aus der französischsprachigen Vorlage ins Deutsche zu übertragen. Für die Charakterisierung der Figuren hat er jeweils eine angemessene Sprache gefunden, um deren persönliche Entwicklung und situative Verortung lebendig werden zu lassen. Seine Übertragung lässt uns nicht nur, wie im Titel angekündigt, hinter die Kulissen der Macht schauen, sie entlarvt den manipulativen Einsatz der Sprache im Tauziehen der Mächtigen, ohne dabei den federleichten und lebendigen Grundton des Originals zu verlieren.
Den besonderen Herausforderungen bei der Übersetzung von Comics und grafischer Literatur, wie der Wahrung der Text-Bild-Beziehungen und der Intertextualitäten, werde Pröfrock in hervorragender Weise gerecht.
Pröfrock ist Händler und Übersetzer von Comics
Der Preisträger betreibt seit 1985 in Freiburg im Breisgau den Comicbuchladen X für U. Und seit 1990 überträgt er die Arbeiten von Comic-Zeichnern wie Lewis Trondheim, Manu Larcenet, Bastien Vivès, Emile Bravo, David Prudhomme, Baru, Yves Chaland, David B. aus dem Französischen und von Comic-Künstlern wie Seth, Posy Simmonds und Joe Matt aus dem Englischen. Mit Ulrich Pröfrock zeichne man somit einen Comic-Übersetzer aus, der wesentlich zur Akzeptanz der „Neunten Kunst“ in Deutschland beigetragen habe.
Autor des Comics war während Irak-Krise Redenschreiber von Dominique de Villepin
Worum geht es in der Geschichte? Auf den Seiten des deutschen Verlags Reprodukt heißt es:
In dem Comic stößt der Doktorand Arthur Vlaminck als Redenschreiber neu zum Beraterstab des französischen Außenministers Alexandre Taillard de Vorms. Hinter den Türen des Auswärtigen Amts am Pariser Quai d’Orsay eröffnet sich dem jungen Mann eine Welt, in der Politik mit Ehrgeiz und Intrigen Hand in Hand geht und die Vernunft nur allzu oft dem Aktionismus unterworfen ist. Aber „TSCHAK TSCHAK TSCHAK“, die Themen müssen einfach sitzen! Und immerhin gilt es, in einer internationalen Krise zu vermitteln.
Die Figur Alexandre Taillard de Vorms basiert auf Dominique de Villepin, dem ehemaligen französischen Außenminister. Und hinter Abel Lanzac, dem Pseudonym des Autors, verbirgt sich ein tatsächlicher Redenschreiber von Villepin zur Zeit der Irak-Krise [nämlich Antonin Baudry].
Die Polit-Satire um den charismatischen, überwältigend schnellen und auch lautstarken Minister wurde von Ulrich Pröfrock meisterhaft übertragen.
Auf Comic-Festival in Angoulême als „Bestes Album“ ausgezeichnet
Das Album ist in Frankreich 2010 und 2011 in zwei Bänden erschienen. Auf dem Comic-Festival in Angoulême im Jahr 2013 wurde das Werk als „Bestes Album“ mit dem wichtigsten europäischen Comicpreis ausgezeichnet.
Comic-Übersetzungen sind freier, unterliegen aber Platzbeschränkungen
In einem Gespräch mit der Badischen Zeitung erläutert der studierte Wirtschaftswissenschaftler Pröfrock, dass man als Übersetzer bei Comics freier arbeiten müsse als bei Büchern. Schon die Sprechblasen bereiteten Schwierigkeiten. Sie ließen sich nicht dehnen, Schriften sich nicht endlos verkleinern. Der übersetzte Text müsse unterkommen, obwohl Deutsch mehr Raum benötige als Französisch oder Englisch.
Pröfrock weist darauf hin, dass er sich den Luxus erlauben könne, mehr Zeit für das Übersetzen aufzuwenden als viele seiner Kollegen. Denn als etablierter Buchhändler müsse er nicht von dem Gewerbe leben, das „erbärmlich bezahlt“ sei.
Mit einem Teil des Preisgeldes will Pröfrock ein neues Comic-Projekt im Berliner Reprodukt-Verlag fördern, der auch Quai D’Orsay veröffentlicht hat.
Preisverleihung im Oktober 2015 in Biberach
Die Preisverleihung wird von der Christoph-Martin-Wieland-Stiftung in Biberach ausgerichtet und findet am 2. Oktober 2015 in der Heimatstadt des Namenpatrons statt. Im Anschluss an die Preisverleihung im Museum Biberach wird eine Kabinettausstellung zur prämierten Graphic Novel eröffnet.
Freundeskreis und Stiftung wollen Übersetzungstätigkeit ins Licht der Öffentlichkeit rücken
Der Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen und die Christoph-Martin-Wieland-Stiftung appellieren an die Verlage, Übersetzer stärker ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken.
Helga Pfetsch, Präsidentin des Freundeskreises zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V., und Kerstin Buchwald, Geschäftsführerin der Christoph-Martin-Wieland-Stiftung, schreiben in der gemeinsamen Presseerklärung:
Es wird oft vergessen, dass uns viele Werke, auch im Bereich der Neunten Kunst, erst durch die stille Arbeit der Übersetzenden zugänglich gemacht werden. Bei den Comic-Verlagen ist die Nennung des Übersetzernamens leider immer noch keine Selbstverständlichkeit. Wir rufen aus diesem Grund die Verlage dazu auf, die Übersetzernamen in den Buchausgaben auf der Titelseite, in Vorschauen, Katalogen und bei der Onlinevermarktung in allen bibliografischen Angaben so zu nennen, wie es urheberrechtlich vorgesehen ist.
Der Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis
Christoph Martin Wieland (1733-1813) war Schriftsteller, Übersetzer, Journalist, Herausgeber und gilt als der Wegbereiter der Weimarer Klassik.
Der Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis wird seit 1979 alle zwei Jahre, alternierend mit dem Helmut-M.-Braem-Preis, vom Freundeskreis ausgeschrieben. Er wird für die herausragende Übersetzung eines Werkes aus wechselnden literarischen Gattungen vergeben. Die Preisverleihung wird von der Christoph-Martin-Wieland-Stiftung organisiert und findet in der Wieland-Stadt Biberach statt.
Der Übersetzerpreis wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg finanziert und ist mit 12.000 Euro dotiert.
Die Übersetzung muss im Jahr der Ausschreibung oder in den drei vorausgegangenen Jahren in einem deutschsprachigen Verlag erschienen sein. Eigenbewerbungen sind möglich. Darüber hinaus können auch deutschsprachige Verlage preiswürdige Übersetzungen einreichen.
Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen
Der Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V. (kurz „Freundeskreis Literaturübersetzer“) ist ein gemeinnütziger Verein, der sich ausschließlich über private Spenden und Zuwendungen des Landes Baden-Württemberg finanziert. Die Arbeit seiner Mitglieder ist ehrenamtlich. Hauptzweck des Vereins ist die Vergabe von Preisen und Stipendien. Seine Sorge gilt ausschließlich dem Wohl der Literaturübersetzer, der Qualität ihrer Arbeit und dem Niveau der Übersetzungskultur.
- 2015-06-14: Das Leben der Sprechblasen (Badische Zeitung)
- 2015-06-12: SWR2-Interview mit Ulrich Pröfrock:
- 2015-01-10: Comic-Übersetzer Uli Pröfrock: “In Deutschland gibt es kein Pendant zu Charlie Hebdo”
- 2014-06-11: Tagung an Uni Hildesheim zur Übersetzung und Adaption von Comics
[Text: Richard Schneider mit Material der Pressemitteilung. Quelle: Pressemitteilung Freundeskreis Literaturübersetzer und Christoph-Martin-Wieland-Stiftung, 2015-06-10; Badische Zeitung, 2015-06-14; Reprodukt-Website, 2015-06-12; SWR2, 2015-06-12. Bild: Reprodukt Verlag, Dargaud.]