Dass das Übersetzen und Dolmetschen zu den ältesten Berufen der Welt gehört, gerät immer wieder in Vergessenheit – auch in der Übersetzungsbranche selbst. Manche Aspekte der Berufsausübung, wie etwa das bei Auftraggebern zu spürende grundsätzliche Misstrauen gegenüber den Mittlern zwischen den Kulturen, sind seit Jahrtausenden unverändert. Selbst viele als modern betrachtete Elemente – wie zum Beispiel beglaubigte Übersetzungen – gibt es seit vielen Jahrhunderten. Beglaubigte Urkundenübersetzungen gibt es in deutschen Landen seit mindestens 1654.
Andere Aspekte haben sich jedoch grundlegend verschoben. So war das Übersetzen und Dolmetschen bis in die 1950er Jahre hinein ein Männerberuf. Außerdem wurde das Übersetzen noch vor 100 Jahren deutlich besser bezahlt als das Dolmetschen. Heute verhält es sich genau andersherum.
Dr. Michaela Wolf vom Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft der Universität Graz hat sich in ihrer Habilitationsschrift mit dem Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburger Monarchie beschäftigt. Die Österreich-Ungarische Monarchie war bekanntlich ein Vielvölkerstaat mit einem Sprachengemisch, das demjenigen der heutigen Multikulti-Gesellschaften in nichts nachstand.
Unter Anwendung eines weit gefassten Translationsbegriffs untersucht Wolf die translatorische Praxis in den Ministerien, im diplomatischen Dienst und bei Gericht. Sie analysiert die Übersetzungsströme zwischen den Sprachen der Kronländer und einigen europäischen Sprachen außerhalb der Monarchie.
Am Beispiel des Transfers vom Italienischen ins Deutsche werden die Bedingungen dieser Konstruktionsprozesse im Detail geprüft. Der kulturkonstruierende Charakter der Translationspraktiken ist sowohl an den nationalitätenbezogenen Spannungen in der Monarchie als auch an der weit verbreiteten Mehrsprachigkeit ihrer Bewohner festzumachen.
Einige der Kapitelüberschriften lauten:
- Übersetzung als Beitrag zur Konstruktion von Kulturen
- Das habsburgische Babylon
- Sprachpolitik zur „Annäherung der Volksstämme“
- Die Ausbildung von Dragomanen
- Der kulturkonstruierende Beitrag der Translationspraxis
- Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von Positionierungskämpfen
- „Übersetzen am laufenden Band“ – Eine Übersetzungsstatistik
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen
Dolmetschen bei Gericht – schon vor 200 Jahren klar geregelt
Nachfolgend einige Abschnitte aus dem Kapitel „Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht“. Sie zeigen, dass bereits vor 200 Jahren alles genauso geregelt war wie heute.
Das Übersetzen und Dolmetschen bei Gericht ist auffallend gut dokumentiert. […] Bereits im Strafgesetzbuch von 1803 war von „beeideten“ Dolmetschern die Rede, die bei gerichtlichen Vernehmungen „sprachunkundiger“ Beschuldigter zwingend beizuziehen waren. Die rechtliche Grundlage für die Beeidigung von Gerichtsdolmetschern ist im Hofdekret von 1835 zu finden, das sowohl die Vorgangsweise bei der Herstellung beglaubigter Übersetzungen regelt als auch die Einrichtung ständig beeideter Dolmetscher: […]
So legte eine Verordnung aus dem Jahr 1852 fest, dass „die Legalisirungen, Bestätigungen des Datums oder der Richtigkeit einer Uebersetzung […] dem Stämpel [unterliegen]“ (RGBl. 86/1852). Die Bestellung von beeideten Dolmetschern für Gerichtsverhandlungen wurde auch in der Strafprozessordnung von 1853 nochmals festgeschrieben; betont wurde ausdrücklich, dass „jede Frage und Antwort sowohl in der Sprache, in welcher der Zeuge vernommen wird, als auch in der Uebersetzung in die Gerichtssprache zu Protokoll gebracht werden [muss]“ (RGBl. 151/1853).
Über die Qualifikationen der gerichtlich beeideten Dolmetscher und Übersetzer ist nicht allzu viel bekannt. Die diesbezüglichen Vorgaben im genannten Hofdekret von 1835 sind sehr allgemein gehalten […]
Dolmetschgebühren bei Gericht waren gesetzlich geregelt. Eine Verordnung des Justizministeriums vom 16. August 1851 gibt an […]. […] sieht ebenso vor, dass die bei Gericht angestellten Beamten oder für ständig und entgeltlich beeideten Dolmetscher ihre Dolmetschaufträge unbezahlt zu entrichten hätten.
Die Höhe der Gebühren richtete sich danach, ob die Übersetzung mündlich oder schriftlich erfolgt war : So wird in Paragraph 385 festgelegt, dass einem Dolmetscher für die mündliche Übersetzung einer in einer fremden Sprache abgefassten Urkunde 50 Kreuzer zustünden, für eine schriftliche Übersetzung hingegen zwei Gulden pro Bogen. Im Falle besonders schwieriger Übersetzungen konnten die Gebühren um die Hälfte des Betrages erhöht werden. Für gerichtliche Vernehmungen wurden pro Halbtag zwei Gulden bezahlt, verfasste der Dolmetscher zusätzlich das Protokoll selbst, erhöhte sich die Bezahlung um einen Gulden. […]
Die Strafprozessordnung von 1853 wies geringere Gebühren aus: So erhielt ein Dolmetscher für die „bloß mündliche Übersetzung“ einer Urkunde 20 Kreuzer, für eine schriftliche Übersetzung jedoch ebenso zwei Gulden pro Bogen. § 336 gibt auch an, dass jede Seite mindestens aus 30 Zeilen zu je 10 bis 18 Silben zu bestehen hätte. Für gerichtliche Vernehmungen wurde ab 1853 pro Halbtag nur ein Gulden bezahlt, inklusive Protokoll ein Gulden 30 Kreuzer (RGBl. 151/1853).
Ebenso erscheint die Diskrepanz zwischen mündlicher und schriftlicher Translationsleistung auffallend – die Übersetzung eines Bogens wurde in gleicher Höhe vergütet wie die gerichtliche Vernehmung während eines halben Tages. Davon kann abgeleitet werden, dass das Prestige mündlicher Translationsleistungen um ein Vielfaches geringer war als die schriftliche Übersetzung – heute stellt sich dieses Verhältnis gerade konträr dazu dar.
Bibliografische Angaben
Michaela Wolf (2012): Die vielsprachige Seele Kakaniens. Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Böhlau, Wien/Köln/Weimar. 439 Seiten, 39,00 Euro, ISBN 978-3205788294.
Weiterführender Link
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https://fedora.e-book.fwf.ac.at/fedora/get/o:18/bdef:Content/get
Mehr zum Thema auf uepo.de
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- 2004-06-28: Anno 1654: Gericht verlangt erstmals eine „beglaubte und approbierte Translation in Teutscher oder lateinischer Sprach“
[Text: Richard Schneider. Bild: Böhlau Verlag.]