ÖVGD: Gerichtsdolmetscherberuf in Österreich „absolut unattraktiv“ für Universitätsabsolventen

ÖVGD
Der ÖVGD kann 2020 seinen hundertsten Geburtstag feiern - ein Grund zur Freude. Die Honorare der Gerichtsdolmetscher befinden sich in Österreich jedoch auf einem historischen Tiefststand - ein Grund zur Wut.

Die Honorare der österreichischen Gerichtsdolmetscher belaufen sich nur auf etwa ein Drittel der in Deutschland gesetzlich vorgegebenen Stundensätze von 70 Euro. Die schlechten Konditionen machen die Arbeit für die Justiz immer unattraktiver. Die Zahl der Gerichtsdolmetscher geht in Österreich seit Langem zurück, die Berufsgruppe überaltert, weil der Nachwuchs fortbleibt.

Im Herbst 2019 hatte der Österreichische Verband der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Dolmetscher (ÖVGD) deshalb einen Streik- und Aktionstag zur Durchsetzung seiner Forderung nach Anhebung der im europäischen Vergleich sehr niedrigen Stundensätze organisiert. Man kam ins Gespräch, die Richterschaft zeigte Verständnis und die Politik versprach Besserung.

Seitdem tat sich aber nichts. Die Bemühungen wurden in der zweiten Jahreshälfte 2019 von der Regierungskrise konterkariert, durch die der politische Betrieb über Monate auf Eis lag. Und nun sorgt die Corona-Krise für weiteres Ungemach: Die Gerichte haben den Betrieb heruntergefahren und viele Verhandlungen abgesagt.

Ob die in Österreich geltende Maskenpflicht auch vor Gericht angewendet wird, entscheidet der jeweilige Richter nach persönlichem Ermessen. Betroffene Gerichtsdolmetscher berichten, dass das Abstandhalten und Masketragen ihre Arbeit deutlich erschwert.

Dennoch gibt der Verband die Hoffnung auf Besserung nicht auf und appelliert in einer aktuellen Presseaussendung erneut an das Finanz- und Justizministerium, endlich auch die Gerichtsdolmetscher angemessen zu honorieren. Letztlich hänge auch das Funktionieren des Rechtsstaates davon ab.

Andrea Bernardini, ÖVGD
Der Vorstand des ÖVGD mit Präsidentin Andrea Bernardini (Mitte). – Bild: ÖVGD

Die Presseaussendung des ÖVGD:

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Gerichtsdolmetscher sind für die Justiz da – auch in der Krise. Wie lange noch?

Viele Gerichtsverfahren können nur mit Hilfe ausgebildeter und zertifizierter Gerichtsdolmetscher entsprechend den Grundsätzen eines fairen Verfahrens nach der EMRK und der EU-Richtlinie 2010/64 durchgeführt werden. Gerichtsdolmetscher sind daher für eine funktionierende Rechtsprechung unerlässlich.

Seit Jahren klagen Gerichte über einen eklatanten Mangel an zertifizierten Gerichtsdolmetschern. Die Berufsgruppe kämpft mit Überalterung, Nachwuchs gibt es kaum.

Häufig müssen Gerichte daher auf unqualifizierte Personen als Dolmetscher zurückgreifen. Dadurch kommt es immer wieder zu Verfahrensverzögerungen und -wiederholungen.

Zertifizierte Gerichtsdolmetscher, die überwiegend universitär ausgebildet sind und die anspruchsvolle Zertifizierungsprüfung abgelegt haben und die – als Qualitätssicherungsmaßnahme – für die alle fünf Jahre fällige Rezertifizierung Fortbildung nachweisen müssen, empfinden das gesetzlich festgelegte Honorar von rund EUR 25,00 pro Stunde als Hohn.

Als Selbständige müssen sie davon noch Einkommensteuer und Sozialversicherungsbeiträge in Abzug bringen und Krankenstand und Urlaub finanzieren sowie auftragsschwache Zeiten überbrücken. Ihr Realeinkommen sinkt laufend, da die Gebühren seit 2007 nicht mehr an die Inflation angepasst wurden (Verlust fast 25 %). Noch dazu wurden die Gerichtsdolmetscher 2014 überraschend mit empfindlichen Kürzungen überrumpelt!

„Viele Kolleginnen und Kollegen fragen sich, wozu sie sich das noch antun sollen. Der Beruf ist mittlerweile absolut unattraktiv für hochqualifizierte Universitätsabsolventen“, so Andrea Bernardini, Präsidentin des Österreichischen Verbands der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Dolmetscher (ÖVGD).

Der österreichweite Aktionstag des ÖVGD am 17.9.2019 brachte den Ist-Stand einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis – in den zuständigen Kreisen hat er nichts bewirkt.

Die in den letzten Monaten geschürten Hoffnungen auf eine Erhöhung der Gerichtsdolmetschergebühren wurden durch das aktuelle Budget abermals enttäuscht.

Vor allem kein Verständnis hat der ÖVGD dafür, dass zwar das Justiz-Budget für 2020 um 165 Mio. EUR (im Vergleich zum Finanzrahmen) aufgestockt wurde, aber offensichtlich bereits vor der Corona-Krise und den sich daraus ergebenden Sparmaßnahmen schon feststand, dass im Justiz-Budget tatsächlich ein Betrag von 0 (null) Euro für das Gerichtsdolmetscherwesen vorgesehen ist! Das war zu befürchten, wurde ja bei der kürzlich abgehaltenen Pressekonferenz von Frau BMJ Zadić unser Berufsstand nicht ein einziges Mal erwähnt.

Wie uns vom Finanzministerium vorige Woche mitgeteilt wurde, entscheidet die zuständige Bundesministerin für Justiz nach sachlich-fachlichen Kriterien entsprechend den Erfordernissen des Justizressorts, zu denen auch das Gerichtsdolmetscherwesen zählt, über die konkrete Zuteilung der nun zusätzlich zur Verfügung stehenden Mittel.

Gleichzeitig weiß man genau, dass die zugeteilten Mittel (unter anderem) dringend für die Aufrechterhaltung des Betriebs in Gerichtskanzleien und Justizanstalten erforderlich sind: Aber für das Gerichtsdolmetscherwesen bleibt wieder nichts übrig …

Nachdem aufgrund des Corona-Virus zahlreiche Gerichtstermine abgesagt wurden und Zahlungen für bereits erbrachte Dolmetschleistungen seitens der Justiz noch schleppender als sonst erfolgen, stehen viele Gerichtsdolmetscher vor dem wirtschaftlichen Aus.

Es kann doch gerade in so einer Extremsituation nicht sein, dass man einerseits Milliarden flüssig machen kann, andere aber aushungert, indem man ihnen nicht einmal das ausbezahlt, wofür sie schon Leistungen erbracht haben und was ihnen schon längst zustehen würde! So nebenbei: Noch nehmen Gerichtsdolmetscher ihre bei der Beeidigung eingegangene Verpflichtung, der Justiz zur Verfügung zu stehen, wahr.

Angesichts des nahezu gesamten Verdienstausfalles wäre es sehr hilfreich, wenn der Bund wenigstens bereits genehmigte Auszahlungen vornehmen würde. Diese Maßnahme wäre im Sinne einer raschen Hilfe für viele Gerichtsdolmetscher von großem Nutzen.

Überall wird in diesen Tagen von Solidarität gesprochen, keiner dürfe auf der Strecke bleiben, niemand solle zurückgelassen werden. Und jene, die schon immer zurückgelassen wurden? Die man seit Jahrzehnten vertröstet, nasführt, im Ministerien-Kreis herumschickt?

Der ÖVGD appelliert daher eindringlicher denn je, in erster Linie an Finanzminister Blümel, aber auch an Justizministerin Zadić, für ausreichend finanzielle Mittel für das Gerichtsdolmetscherwesen zu sorgen.

Ein Ende der Gerichtsdolmetscher würde nämlich auch ein Ende der funktionierenden Rechtsprechung bedeuten.

08.04.2020

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