Vor einigen Wochen starb der Anglistikprofessor Klaus Hansen. Als einer der besten Abiturienten der DDR wurde er 1952 mit der Lessing-Medaille in Gold ausgezeichnet. Sein Wunsch, Anglistik zu studieren, wurde jedoch abgelehnt, weil Apparatschiks das Talent des jungen Mannes nicht an die Sprache eines imperialistischen Landes verschwendet sehen wollten. Stattdessen wurde ihm ein Studienplatz in der Sinologie angeboten.
Erst nach mehreren Zeitungsartikeln in Ost und West, die den Fall aufgriffen, und der Fürsprache des Direktors des Englischen Instituts der Humboldt-Universität durfte Hansen dann ein Jahr später doch noch Anglistik studieren.
Sein Schüler, Kollege und Freund Peter Lucko hat dazu einen Artikel in der Berliner Zeitung veröffentlicht, den wir hier mit freundlicher Genehmigung wiedergeben.
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Humboldt-Universität: Klaus Hansen oder Die Liebe zur imperialistischen Sprache
Am Sonnabend, dem 5. September 2020, wurde in der Berliner Zeitung die Todesanzeige von Prof. Dr. sc. Klaus Hansen veröffentlicht. Er verstarb mit 86 Jahren. Bis 1999 war er Professor für Englische Sprache an der Humboldt-Universität gewesen. Kaum jemand weiß noch, dass sein Name vor fast 68 Jahren zum ersten Mal in der Berliner Zeitung auftauchte. Am 15. Oktober 1952 brachte die Zeitung eine kurze Meldung über die Auszeichnung der besten Abiturienten der DDR mit der Lessing-Medaille, und Klaus Hansen war der einzige Berliner, der die Medaille in Gold erhielt.
14 Tage später erschien Hansens Name erneut, und diesmal verbunden mit einem journalistischen Paukenschlag. Die Überschrift des Artikels lautete: „Muß er Sinologie studieren?“ Der Journalist M. J. hatte mit dem besten Berliner Abiturienten über seinen Studienbeginn sprechen wollen und erwartet, dass ihm in der Hochschulbildung alle Türen offen stünden. Doch Klaus Hansen berichtete, dass ihn die Universität abgewiesen habe. Das erinnerte den Journalisten an eine Reihe ähnlicher Fälle, und als er hörte, dass Klaus Hansen nach Rücksprache mit dem Prorektor doch studieren durfte, aber nicht, wie gewünscht, Anglistik, sondern Sinologie, schrieb er: „Mit dieser Handhabung der Zulassung sind wir nicht einverstanden“. Das Staatssekretariat für das Hochschulwesen solle sich generell um die Zulassungspolitik kümmern, insbesondere um den Fall Klaus Hansen.
Es tat sich nichts. Aber die Berliner Zeitung blieb am Thema und veröffentlichte am 22. Januar 1953 den ausführlichen Artikel „Wie steht’s mit der Anglistik? Eine Bemerkung zum Unterricht und Studium des Englischen in der DDR“. Verfasst hatte den Beitrag Prof. Martin Lehnert, Direktor des Englischen Instituts der Humboldt-Universität. Er erwähnte unter Bezug auf den Beitrag von M. J., dass beide Direktoren des Instituts ein Gespräch mit Klaus Hansen geführt hatten und dieser noch immer verstört über die Verweigerung seines Studienwunsches sei, zumal seine sinologische Ausbildung sich auf zwei Wochenstunden bei einem Leipziger Gastprofessor beschränkte, während in der Anglistik ein volles Ausbildungsprogramm bereitstand. Lehnert sprach den tieferen Grund der Ablehnung an: „Es spukt hier in vielen Köpfen eine Vorstellung herum, die die englische Sprache für eine imperialistische Sprache, die englischsprachigen Völker für imperialistische Völker hält.“ Und setzte dagegen den damals einzig wirksamen Hebel an: den Verweis auf das sowjetische Vorbild einer etablierten anglistischen Ausbildung und einer umfangreichen Pflege der englischen und amerikanischen Literatur und Kultur.
Die Berliner Zeitung verurteilte vulgärmarxistische Engstirnigkeit
Der Artikel in der Berliner Zeitung mit seiner klaren Verurteilung von vulgärmarxistischer Engstirnigkeit brachte eine Diskussion in die Öffentlichkeit, die sich schon längere Zeit an den Hochschulen zumeist hinter verschlossenen Türen entwickelt hatte. Auch den Romanisten Victor Klemperer beunruhigte die Vernachlässigung „westlicher“ Philologien. Es ist geradezu erstaunlich, wie hartnäckig an dieser Auffassung festgehalten wurde, obwohl die sowjetische Hochschulpolitik anders vorging. Klaus Hansen erzählte mir später, Prorektor Lekschas habe in dem persönlichen Gespräch zu ihm gesagt: „Was wollen Sie denn mit der Anglistik? Das Englische wird allmählich verschwinden, die Zukunft gehört den Chinesen!“
Es gab trotz Lehnerts Artikel keine Veränderung in seiner Zulassung, aber die Diskussion schwappte nun auch hinüber in die westdeutsche Presse, und so tauchte in dem Beitrag „Englisch unerwünscht – Student, der nicht studieren darf“ in der Frankfurter Nachtausgabe vom 31.1.1953 auch wieder Klaus Hansens Name auf. Es bedurfte erst der Ereignisse des 17. Juni des Jahres, dass im Hochschulwesen eine politische Mäßigung eintrat und Klaus Hansen Anglistik studieren durfte.
1958 hielt Hansen auf einer anglistischen Aspirantentagung einen vierstündigen Vortrag mit einem kritischen Überblick über die damals modernen linguistischen Richtungen des Strukturalismus, der unter dem Titel „Wege und Ziele des Strukturalismus“ in der Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik veröffentlicht wurde. Er sorgte für Aufsehen, da die Linguistik beiderseits der innerdeutschen Grenze damals überwiegend von der sprachhistorisch orientierten Tradition der Junggrammatiker dominiert wurde. Der Münchner Anglist Prof. Wolfgang Clemen versuchte Klaus Hansen zu bewegen, nach München zu kommen und dort eine moderne Linguistik aufzubauen. Er fragte dazu sogar beim DDR-Ministerium an, worauf Hansen keine Westreisen mehr genehmigt wurden. Dabei hatte er nicht die mindeste Absicht, Ost-Berlin zu verlassen, denn er wollte die moderne Linguistik an seinem Institut in der Humboldt-Universität aufbauen und seine nach dem frühen Tod des Vaters alleinstehende Mutter nicht zurücklassen.
Ein Jahr später erschien – ohne sein Wissen – eine russische Übersetzung seines Artikels in der sowjetischen Zeitschrift Voprosy Jazykoznanija, die vor allem in der Tschechoslowakei eine enorme Wirkung erzielte. Seine kritische Einschätzung hatte den funktionalen Strukturalismus der Prager Schule als besonders sinnvoll hervorgehoben, einer Gruppe von Linguisten in Prag und Brno, deren Arbeit im eigenen Lande als „bürgerlich“ und damit negativ verunglimpft wurde. Ihre positive Darstellung in der führenden linguistischen Zeitschrift der UdSSR ließ die Kritiker zähneknirschend verstummen und wurde von den Linguisten Trnka, Nossek, Vachek und Firbas als Ehrenrettung empfunden, die sie von üblem Druck befreite.
Anglistikausbildung in der DDR zielte vor allem aufs Lehramt
Als ich 1962 mit dem Studium der Anglistik begann, waren es die Lehrveranstaltungen von Dr. Hansen, die genau dem entsprachen, was ich mir unter Hochschulbildung vorgestellt hatte: die Vermittlung präziser Details, eingebunden in ein System mit hoher Abstraktion. Er begann damals, seine Vorstellungen von einer modernen Linguistik-Ausbildung umzusetzen. Es mangelte an Lehrmaterialien und er erarbeitete eigene und hat die Anglistikausbildung in der DDR, die ja vor allem auf das Lehramt zielte, auf eine hochwertige Basis gestellt, was auch von westdeutscher Seite anerkannt wurde. Sein (mit Roland Arnold) verfasstes Lehrbuch „Englische Phonetik“ wurde in den siebziger Jahren sofort in der Bundesrepublik nachgedruckt und ist heute noch ein Standardwerk an deutschen Universitäten.
Sowohl bei der Forschung als auch in der Lehre gab es immer wieder Versuche, dem erfolgreichen Wissenschaftler ideologisch an den Karren zu fahren. Missgünstige Kollegen bezichtigten ihn einer „bürgerlichen“ Haltung, und ein Professor der Marxismus-Leninismus-Ausbildung warf ihm vor, er verbreite den „Geist der Anglophilie“. 1968 tauchte in dessen Vorlesung ein Flugblatt auf, das zur Solidarität mit dem „Prager Frühling“ aufrief. Und weil an diesem Tag alle Mitglieder der Seminargruppe, die Klaus Hansen betreute, die Vorlesung geschwänzt hatten, schloss man messerscharf, dass nur sie dafür verantwortlich sein konnten. Daraufhin versetzte die Parteileitung eine Slawistin als Aufpasserin in seinen Bereich und ließ auch die FDJ-Versammlungen seiner Seminargruppe ein Jahr lang beaufsichtigen. Einen Grund zum Eingreifen fanden die Aufpasser nie, denn die Gruppe hatte damals jede der Versammlungen mit Klaus Hansen zuvor wie ein Schauspiel geprobt.
1989 war Klaus Hansen in akademischer Hinsicht der Mann der Stunde
Trotz aller Anfeindungen konnte man die wissenschaftliche Kompetenz von Klaus Hansen nicht ignorieren, und so wurde er in die Fachkommission Englisch und in den Wissenschaftlichen Beirat für Kultur-, Kunst- und Sprachwissenschaften beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen berufen. Das Westreiseverbot wurde fallengelassen, und 1981 traf er bei einer ausgedehnten Studienreise nach Großbritannien mit allen großen Vertretern der Linguistik in England und Schottland zusammen.
1989 war Klaus Hansen der Mann der Stunde. Er wurde Dekan der neugegründeten Philologischen Fakultät, Mitglied des akademischen Senats und des Konzils und nach der Wiedervereinigung vom Wissenschaftssenator als einziger Ostberliner zum Mitglied der Landeshochschulstrukturkommission berufen. Beim Besuch der britischen Königin Elisabeth II. 1992 wurde er ihr vorgestellt, und mit Prinz Charles traf er bei der Eröffnung des Großbritannien-Zentrums an der Humboldt-Universität zusammen. 1993 aber legte er das Amt des Dekans aus Protest gegen die Eingriffe des Wissenschaftssenators in Berufungsverfahren an der Humboldt-Universität nieder.
Klaus Hansen war in vieler Hinsicht ein bescheidener Mensch. Er erwarb nie ein Auto, reiste aber gern und nach der Wende viel und blieb mit seiner Familie immer in der kleinen Wohnung, in der er auch geboren wurde. Am 9. August schloss er nach einer schmerzvollen Zeit schwerer Krankheit die Augen für immer. In einem klaren Moment seiner letzten Tage sagte er zu seiner Frau: „Ich habe mein Möglichstes getan.“
Peter Lucko
Der Autor ist ein Schüler, Kollege und Freund von Klaus Hansen.
Dieser Artikel erschien zuerst am 18.10.2020 unter der Überschrift „Humboldt-Universität: Klaus Hansen oder Die Liebe zur imperialistischen Sprache“ in der Berliner Zeitung. Er unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) und darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.