Wie übersetzt man Virtue Signaling? Deutsche Mannschaft blamiert sich bei Fußball-WM in Katar

One-Love-Armbinde
Torwart Manuel Neuer posierte schon Wochen im Voraus mit der One-Love-Binde. Laut DFB richtet sich die Botschaft "gegen jede Form von Diskriminierung. Sie wendet sich gegen die Ausgrenzung von LGBTQ+-Menschen, aber auch gegen Rassismus und Antisemitismus. Die Farbgebung symbolisiert dies. Rot, Schwarz und Grün finden sich in der panafrikanischen Flagge, Pink, Gelb und Blau symbolisieren die Pansexual-Flagge." - Bild: DFB

Mit gutem Fußball konnte die deutsche Nationalmannschaft in ihrem Auftaktspiel nicht aufwarten. Sie verlor gegen Japan mit 1:2 Toren. Dafür bot sie bei der Weltmeisterschaft in Katar aber ein grandioses Schauspiel in Sachen virtue signaling (in britischer Schreibweise virtue signalling). Ein Begriff, für den sich noch keine griffige deutsche Übersetzung eingebürgert hat.

Das amerikanische Wörterbuch Merriam-Webster definiert den Ausdruck so:

The act or practice of conspicuously displaying one’s awareness of and attentiveness to political issues, matters of social and racial justice, etc., especially instead of taking effective action.

Und im britischen Collins Dictionary heißt es kurz und knapp:

Behaviour that is aimed at demonstrating one’s own enlightened attitudes.

Die Utensilien: eine Armbinde und eine Geste

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte gemeinsam mit einigen anderen europäischen Verbänden für das Turnier eigens eine Armbinde mit dem Aufdruck „One Love“ und einem bunten Herzchen entwerfen lassen. In der Farbgebung wird dabei von der bekannten Regenbogenflagge abgewichen. Torwart Manuel Neuer sollte das Teil als Kapitän während des Spiels tragen.

Nach den Regeln des Weltfußballverbands FIFA ist das jedoch nicht zulässig. Artikel 13.8.1 des FIFA-Ausrüstungsreglements besagt klar und deutlich: „Bei FIFA-Endrunden muss der Spielführer jedes Teams die von der FIFA bereitgestellte Spielführerbinde tragen.“

Dieser Sichtweise beugte sich trotz gegenteiliger großspuriger Ankündigungen letztendlich auch der DFB, nachdem ihm klargemacht wurde, dass Zuwiderhandlungen sanktioniert werden würden.

Aus Protest hielten sich dann die Spieler beim Gruppenfoto vorm Anpfiff die Hand vor den Mund und der DFB twitterte: „Auch ohne Binde. Unsere Haltung steht.“ Innenministerin Nancy Faeser (SPD) trug die One-Love-Binde demonstrativ auf der Zuschauertribüne. Sie saß direkt neben FIFA-Chef Gianni Infantino, der die Sache mit Humor nahm.

Die Hand-Geste der Mannschaft war nach dem verlorenen Spiel eine Steilvorlage für Karikaturisten und Spaßvögel auf Twitter.

Fußball-WM Katar, Mund-Geste
Die deutsche Mannschaft protestiert dagegen, dass sich die FIFA an die auch vom DFB gebilligten Regeln hält. Ein arabischer Karikaturist nahm das zum Anlass, den Sieg Japans zu feiern. Über dem Bild steht „Japan besiegt Deutschland“. – Quelle: Twitter

Einige europäische Verbände wollten „ein Zeichen setzen“

Der französische Kapitän Hugo Lloris verkündete, die One-Love-Binde nicht zu tragen. Und sein Staatspräsident Emmanuel Macron pflichtete ihm bei: „Ich glaube, wir sollten den Sport nicht politisieren.“

Dagegen gehört Deutschland zu einer kleinen Gruppe von rund sechs europäischen Mannschaften, die beim Turnier unbedingt ihre Tugendhaftigkeit zur Schau stellen wollten. An dem Turnier nehmen insgesamt 32 Teams teil.

Auch die englische Mannschaft setzt gerne „ein Zeichen“, indem die Spieler vor dem Anpfiff auf dem Feld kurz niederknien, als ob sie sich einen Schuh zubinden wollten. Wofür oder wogegen damit protestiert wird, dürfte den meisten Zuschauern unklar bleiben, ist letztlich aber auch irrelevant. Das Signal solcher Aktionen lautet im Grunde nur: Wir sind die moralisch Guten. Nehmt euch an uns ein Beispiel.

FIFA-Präsident Gianni Infantino hatte diese Haltung schon im Vorfeld des Turniers als heuchlerisch kritisiert:

For what we Europeans have been doing around the world in the last 3,000 years we should be apologising for the next 3,000 years before starting to give moral lessons to people.

Katar, japanische Fans
Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: Japanische Fans machen sich nach der deutschen Niederlage über die Tugendbolde lustig. – Bild: Twitter

FIFA produziert in letzter Minute eigene tugendhafte Armbinden

Als Reaktion auf die One-Love-Pläne präsentierte die FIFA kurz vor Beginn der Spiele eigene Kapitänsbinden mit gesellschaftspolitischen Botschaften und versuchte so, den Aufmüpfigen eine Brücke zu bauen. Die Aufschriften lassen an Vielfalt und Tugendhaftigkeit nichts zu wünschen übrig:

1. Football Unites The World, 2. Save The Planet, 3. Protect Children, 4. Share The Meal, 5. Education For All / Football For Schools, 6. No Discrimination, 7. Be Active / Bring The Moves

FIFA-Armbinde "No Discrimination"
Die offizielle No-Discrimination-Armbinde der FIFA zeigt ebenfalls ein süßes Herzchen (und eine Hand, die einen Tintenfisch ausquetscht). – Bild: FIFA

Übersetzungsvorschläge: Tugendprahlerei, Tugendprotzerei, Gutmenschelei

Wie übersetzt man den Begriff Virtue Signaling ins Deutsche? Eine allgemein verbreitete Eindeutschung gibt es noch nicht.

Erste wörtliche Übersetzungsversuche wie Tugendsignalisierung im Online-Wörterbuch dict.cc oder auch Tugendzurschaustellung sind unverständlich oder eignen sich lediglich als Erläuterung.

Treffender und griffiger sind zwei Vorschläge in der Wikipedia: Tugendprahlerei und Tugendprotzerei. Im Netz findet sich mit Tugendangeberei eine weitere Variante. Zu überzeugen vermag auch der Vorschlag Gutmenschelei. Diejenigen, die Virtue Signaling betreiben, könnte man als Tugendbolde bezeichnen, ein Ausdruck, der schon seit Generationen existiert.

Lufthans, Fanhansa, Diversity Wins
Jede Möglichkeit, „ein Zeichen zu setzen“, wurde genutzt. Die Lufthansa hatte sich auf dem Mannschaftsflieger in „Fanhansa“ umbenannt und behauptete: „Diversity Wins“. – Bild: Lufthansa

Auch das noch: in Vorrunde ausgeschieden

Nachtrag 01.12.2022:

Nach einer Niederlage gegen Japan, einem Unentschieden gegen Spanien und einem Sieg gegen Costa Rica ist die deutsche Mannschaft bereits in der Vorrunde aus dem Turnier ausgeschieden, womit die Blamage komplett wäre. Aus „One Love“ wurde „One Laugh“ wie Spötter auf Twitter witzelten.

Im letzten Spiel der Deutschen setzte die FIFA aber noch „ein starkes Zeichen“ im Wüstenstaat: Erstmals in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften der Männer wurde eine Partie von einer Frau gepfiffen. Auch die Positionen der Linienrichter waren weiblich und sogar paritätisch nach Haarfarbe besetzt – mit einer Schwarzhaarigen und einer Blondine.

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