EU-Plattformrichtlinie nun doch beschlossen – VGSD: „Schwarzer Tag für Selbstständige“

Europa-Flagge
Bild: Mediamodifier / Pixabay

Der aus den Arbeits- und Sozialministern der Europäischen Union bestehende Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ der EU (EPSCO) hat auf seiner Sitzung am 11. März 2024 im zweiten Anlauf nun doch noch die umstrittene Richtlinie zur Plattformarbeit beschlossen, von der auch viele freiberuflich tätige Übersetzer und Dolmetscher betroffen sein könnten.

Für Deutschland nahm der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil (SPD), an der Sitzung teil. Deutschland stimmte wie bereits zuletzt am 16. Februar 2024 weiterhin mit Enthaltung, da sich die Koalition in dieser Frage nicht einig ist. SPD und Grüne sind für die EU-Plattformrichtlinie, die FDP ist strikt dagegen.

Beschlossen wurde die Richtlinie trotz deutscher Enthaltung und einem französischen Nein, weil es den Strippenziehern hinter den Kulissen in den letzten Tagen gelang, Griechenland und Estland umzustimmen, die sich bisher der Stimme enthalten hatten. Beide stimmten jetzt mit Ja, womit die erforderliche Mehrheit erreicht war.

Hubertus Heil EPSCO
Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales der Bundesrepublik Deutschland, auf der EPSCO-Sitzung in Brüssel. Er enthielt sich mit Rücksicht auf die FDP der Stimme, begrüßte aber später, dass das Gesetz beschlossen wurde. – Bild: Bildschirmfoto der Direktübertragung

Plattformbegriff schwammig, Rechtsunsicherheit steigt

Zu dieser jüngsten Entwicklung erklärt der Vorsitzende des Verbands der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD), Dr. Andreas Lutz: „Die Einigung auf diese Version der EU-Richtlinie zur Plattformarbeit ist ein schwarzer Tag für die Selbstständigen in Deutschland.“

Die jetzt erzielte Einigung werde von der EU als Erfolg zum Schutz von Plattformbeschäftigten dargestellt. Tatsächlich werde sich die Regelung nach Einschätzung des VGSD jedoch vor allem verheerend auf Solo-Selbstständige und ihre Auftraggeber auswirken.

Mit ihr werde die schon jetzt bedrückende Rechtsunsicherheit bezüglich ihres Status noch weiter zunehmen. Zugleich dürfte der Nutzen für Plattformbeschäftigte wie etwa Fahrradkuriere und Uber-Fahrer gering sein, da diese in Deutschland ganz überwiegend schon jetzt angestellt sind.

Der Plattformbegriff der Richtlinie sei so weit gefasst, dass er Hunderttausende Menschen betreffen werde, die sich nicht als Plattformarbeitende sähen, sondern die gerne selbstständig seien und dies auch bleiben wollten.

Durch den schwammigen Plattformbegriff könnte, so der Verband, eine große Zahl von Auftraggebern in Deutschland allein durch die Nutzung zeitgemäßer Methoden zur Zusammenarbeit mit Selbstständigen unter die Richtlinie fallen.

Andreas Lutz
Der promovierte Diplom-Kaufmann Andreas Lutz hat 2012 den VGSD gegründet und ist seitdem dessen Vorstandsvorsitzender. – Bild: Thomas Dreier

Beweislast wird umgekehrt, Kriterien für (Schein-)Selbstständigkeit sind unklar

Durch die Beweislastumkehr müssen Auftraggeber künftig beweisen, dass ihre Auftragnehmer selbstständig sind. Ein in den Augen des VGSD „enormer bürokratischer Aufwand“. Zudem seien nun die Kriterien dafür nicht mehr europaweit einheitlich in der Richtlinie festgelegt (was eines ihrer Hauptziele war), sondern es gelten jetzt die Kriterien der einzelnen Mitgliedstaaten.

In Deutschland fehle es aber schon seit Jahren an klaren Kriterien für die Scheinselbstständigkeit. Nun würden Sanktionen verschärft, ohne dass man sich zuvor auf rechtssichere Kriterien habe einigen können.

VGSD-Vorstand Andreas Lutz befürchtet, dass die neue Richtlinie die schwierige Lage für Selbstständige weiter verschärfen wird:

Die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit stellt die Selbstständigkeit gerne und freiwillig Selbstständiger in Deutschland in Frage. Schon jetzt gibt es immer mehr Auftraggeber, die keine Aufträge mehr an Solo-Selbstständige in Deutschland vergeben oder sie gegen ihren Willen in deutlich schlechter bezahlte Leiharbeit drängen, weil diese im Vergleich als rechtssicherer erscheint.

Für die in der BAGSV (Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände) organisierten 35 Berufs- und Selbstständigenverbände ist die schon jetzt unerträgliche Rechtsunsicherheit seit langem das drängendste Problem.

Die Begründung der Richtlinie werfe viele Fragen auf, so Lutz:

Von der EU wird in der Öffentlichkeit mit Zahlen operiert, die äußerst fragwürdig sind und einer Überprüfung unseres Erachtens nicht standhalten. Wären sie korrekt, würde es bedeuten, dass zwei von drei Solo-Selbstständigen in Deutschland ihre Selbstständigkeit beenden müssten.

In der Tat sprach der den Ratsvorsitz führende Belgier Pierre-Yves Dermagne (Sozialistische Partei) von „28 Millionen Plattformbeschäftigten in Europa“. Auf der Website der EU heißt es, diese Zahl werde bis 2025 auf „48 Millionen“ ansteigen.

Pierre-Yves Dermagne
Pierre-Yves Dermagne machte als neuer Ratsvorsitzender mächtig Druck, um die Richtlinie noch vor den Europawahlen im Juni zu beschließen. – Bildschirmfoto

Beste Laune und Selbstzufriedenheit auf Pressekonferenz

Die Pressekonferenz nach der Entscheidung war von geradezu euphorischer Stimmung geprägt – mehrfach fiel das Wort „historisch“.

Der belgische Minister Pierre-Yves Dermagne leitete die Pressekonferenz ein mit den Worten:

Vor Ihnen stehen nicht nur ein Minister, sondern drei Minister und ein Kommissar, die besonders stolz sind, die sich freuen, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass der Rat endlich […].

Er kündigte zudem an, die Plattformrichtlinie sei nur „ein erster Schritt“ zur Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

„Im Zentrum steht der Schutz der Plattform-Beschäftigten“, so der Luxemburger Nicolas Schmit von der Sozialistischen Arbeiterpartei LSAP. Der EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte erklärte unter Anspielung auf Fahrradkuriere:

Jemand, der einfach nur jung ist und ein Fahrrad hat, der ist nicht Unternehmer, sondern der ist prekär beschäftigt.

EU-Kommissar Nicolas Schmit
„Im Zentrum steht der Schutz der Plattform-Beschäftigten“, so EU-Kommissar Nicolas Schmit. – Bildschirmfoto

Drei Jahre wurde um Leuchtturmprojekt der Linken gerungen

Um die Richtlinie wurde fast drei Jahre lang gerungen. Im Dezember 2021 legte die EU-Kommission den ersten Entwurf vor. Ein Jahr später machte das EU-Parlament einen eigenen Vorschlag. Mit einem Kompromiss-Vorschlag des Rates begannen im Sommer 2023 die Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament, die im Dezember scheiterten.

Im Februar 2024 schlug die belgische Ratspräsidentschaft dann vor, auf einen Kernteil der Richtlinie, die Kriterien für die Scheinselbstständigkeits-Vermutung, zu verzichten und diese den einzelnen Mitgliedsstaaten zu überlassen.

Dieser Vorschlag scheiterte zunächst, weil Deutschland sich auf Druck der FDP der Stimme enthielt und Frankreich, Griechenland und Estland dagegen stimmten. Nachdem die beiden kleineren Länder letzte Woche umgestimmt werden konnten, wurde der Kompromiss heute im zweiten Anlauf beschlossen.

Sind Übersetzer und Dolmetscher überhaupt betroffen?

Die große Frage für die Übersetzungsbranche lautet: Sind Übersetzer, Dolmetscher, Übersetzungsbüros und Vermittlungsplattformen für Übersetzungsaufträge überhaupt von der EU-Plattformrichtlinie betroffen? Die kurze Antwort lautet: Wir wissen es (noch) nicht. Wahrscheinlich kommt es auf den Einzelfall an.

In Kalifornien hatte Gesetz AB 5 massive Auswirkungen auf Übersetzer

Die Übersetzungsbranche erinnert sich noch mit Schrecken an die Jahre 2019/2020, als Lorena Gonzalez-Fletcher, eine Abgeordnete der Demokraten, in Kalifornien das ebenfalls gegen die Plattformarbeit („Gig Economy“) und Scheinselbstständigkeit gerichtete Gesetz „AB 5“ formulierte und zur Verabschiedung brachte. Es erwies sich anschließend wie befürchtet als „Jobkiller“.

Damals war auch das Berufsmodell der in Kalifornien freiberuflich tätigen Übersetzer gefährdet. Es bedurfte eines erheblichen lobbyistischen Aufwandes durch die Berufsverbände und republikanische Politiker, die Berufsgruppe der Übersetzer und Dolmetscher nachträglich von der Regelung auszunehmen. Dies konnte erst neun Monate nach Inkrafttreten des ursprünglichen Gesetzes erreicht werden.

Taxifahrer sind von EU-Plattformrichtlinie ausgenommen

Eine solche Ausnahmeregelung für bestimmte Berufsgruppen ist übrigens auch in der EU-Plattformrichtlinie enthalten: Das gesamte Taxi-Gewerbe ist von den Regelungen ausgenommen – nicht aber Fahrdienste wie Uber.

Das teilten Schmit und Demagne auf der Pressekonferenz eher beiläufig auf Nachfrage mit, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. Als Begründung wurde angeführt, dass dies eine seit Langem stark regulierte Branche sei.

Taxifahrer dürfen in der EU also weiterhin prekär beschäftigt und ausgebeutet werden.

Sind ProZ.com oder große Übersetzungsbüros „Plattformen“?

Ist ein Freiberufler, der seine Aufträge im Wesentlichen über Übersetzungsbüros erhält, ein Plattformarbeiter? Eigentlich schon, denn er erfüllt damit mehrere Kriterien des Gesetzes.

Die Vermittlung erfolgt oft sogar automatisiert und algorithmisch: Die Projektmanagerin stellt den Auftrag ins System (z. B. Plunet) und dieses benachrichtigt die infrage kommenden Übersetzer automatisch. Wer als Erster zugreift, erhält den Job.

In Spanien und Belgien gibt es bereits nationale Plattform-Gesetze

In Spanien und Belgien existieren offenbar bereits seit einigen Jahren nationale Plattform-Gesetze. Wie sind die Erfahrungen dort? Hatten die Neuregelungen Auswirkungen auf Übersetzer? Wir wissen es nicht.

Fazit: Mehr offene Fragen als Lösungen, mehr Bürokratie, mehr Rechtsunsicherheit

Die EU-Plattformrichtlinie muss jetzt noch vom Europäischen Parlament abgesegnet werden, was aber als sicher und reine Formsache gilt.

Viele Befürworter verbinden mit der EU-Plattformrichtlinie naive Hoffnungen auf bessere Arbeitsbedingungen. So träumt die französische EU-Abgeordnete Leïla Chaibi: „Mit dieser Richtlinie werden Millionen von Scheinselbstständigen in ganz Europa zu Arbeitnehmern umqualifiziert werden.“ Diese Erwartungen dürften sich in der Praxis schnell in Luft auflösen.

Es mag sein, dass einige Plattformen unverzichtbare Mitarbeiter nun notgedrungen Angestellten-ähnlich bezahlen und absichern werden. Die Zahl derjenigen, die aber einfach nicht weiterbeschäftigt werden, falls eine Angestellten-Einstufung droht, dürfte um ein Mehrfaches höher sein.

Statt „prekär beschäftigt“ sind viele Gig Worker dann erst einmal arbeitslos. „Sei froh, denn das war ein Scheißjob, den du da hattest“, heißt es dann etwa von den Gewerkschaften. Auch das mag sein, aber die Entscheidung darüber sollte der Einzelne selbst treffen können. Viele wollen mit Plattformarbeit gar nicht den Lebensunterhalt bestreiten, sondern sich nur etwas dazuverdienen.

Im Endeffekt dürfte eine große Zahl von Jobs in der Gig Economy verloren gehen bzw. ins außereuropäische Ausland verlagert werden. Einige Plattformen werden schließen, andere werden Mittel und Wege finden, die Richtlinie zu umgehen.

Es bestehen Unwägbarkeiten und offene Fragen ohne Ende. Auch die jetzt beschlossene Beweislastumkehr ist tückisch, ihre Folgen sind nicht absehbar.

Nur eines steht jetzt schon fest: Die Richtlinie führt zu mehr Bürokratie und mehr Rechtsunsicherheit. Kleinen Selbstständigen wird das Leben zusätzlich erschwert, ihre Zahl wird weiter zurückgehen. Aber auch das scheint ein unausgesprochenes Ziel dieser Gesetzgebung zu sein.

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Richard Schneider