
Wer vom Hauptbahnhof Bochum zum Ausgehviertel „Bermuda3Eck“ schlendert, der erblickt linker Hand eine nach Einbruch der Dunkelheit hell erleuchtete Unterführung. Ungewöhnlich ist die Akzentfarbe, die hier zum Einsatz kommt: ein warmes Rot-Orange.
Wer glaubt, damit werde mehr oder weniger dezent der Weg zum Rotlichtviertel gewiesen, der irrt. Und auch das nicht hinter der Unterführung, aber doch nahe gelegene Bermuda3Eck ist lediglich ein Ausgehviertel mit Dutzenden von Kneipen, Restaurants und zwei Programmkinos.
Das leuchtende Rot wird von Neonschriftzügen unter der Decke auf den Asphalt geworfen. Allerdings lässt sich das, was dort steht, nicht alles auf Anhieb entziffern. „Kuda“ kann ich da in lateinischer und kyrillischer Schrift lesen, aber nicht verstehen. Woanders steht „wohin“, „where to“ und „waarheen“, die alle dasselbe bedeuten.
Darüber hinaus vermag das geschulte Auge des polyglotten Übersetzers auch etwas Japanisches, Chinesisches, Arabisches, Hebräisches und Vietnamesisches zu identifizieren, aber ohne dessen Bedeutung entschlüsseln zu können. Insgesamt handelt es sich um 24 verschiedene Schriftzüge.

Keine Leuchtreklame, sondern Kunst
Für den Betrachter ist schnell klar, dass es sich hier nicht um kommerzielle Werbung für die Deutsche Bahn oder Coca-Cola handelt. Hier war ein Künstler am Werk.
Aber was will uns Christoph Hildebrand damit sagen? Mahnt er zum Weltfrieden? Immerhin steht da auch „dove“, die englische Bezeichnung für eine Taube, möglicherweise eine Friedenstaube.
Doch halt! Wofür habe ich eigentlich vier Semester Italienisch studiert? Mit „dove“ könnte statt des friedfertigen Vogels auch ein italienisches Wort gemeint sein, das wir aus Wendungen wie „Dove vai?“ kennen (Wohin gehst du?). Das würde auch zu „wohin“ und „where to“ passen.
Sieht so aus, als ob hier jeder Schriftzug dieselbe Frage stellt: die nach dem Wohin. Aber warum?
Noch interessanter wird es, wenn man die Unterführung in Gegenrichtung passiert. Dann stellt einem das Leucht-Orakel nämlich eine andere Aufgabe und fragt: „woher“? Beziehungsweise „d’où“, „vanwaar“, „where from“, „da dove“ usw.
Will der Künstler tatsächlich wesentliche Fragen des Seins aufwerfen? Woher kommen wir als Menschheit? Wohin gehen wir? Wahrscheinlich ist die Fragestellung hier profanerer Natur. Das Projekt soll vor allem verdeutlichen, dass die Bochumer Dutzende von Muttersprachen sprechen.

Bezüge zum Reisen, zur Philosophie, Religion und Migration
Bei der Einweihung der Woher-wohin-Installation im Jahr 2014 erklärte der in Essen ansässige Künstler:
Einerseits ist das der Bezug zum Bahnhof, zum An- und Abreisen, andererseits hat es eine philosophische und religiöse Variante. Es verweist aber auch auf Migranten und erfüllt damit die politische Dimension.
Christoph Hildebrand hatte sich von der Stadtverwaltung eine Statistik mit den 30 häufigsten Herkunftssprachen der Bochumer Wohnbevölkerung geben lassen. Dann ließ er sich die beiden Wörter wohin und woher in diese Sprachen übersetzen. Nicht von einem Übersetzungsbüro oder der Ruhr-Universität, sondern von in der Stadt arbeitenden Muttersprachlern.
Bei der Umsetzung der schriftlich auf Zetteln erhaltenen Übersetzungen übernahm der Künstler sogar die Handschrift der jeweiligen Muttersprachler. Das erklärt, warum einige Schriftzüge schwerer lesbar sind als Druckbuchstaben, aber es sorgt für mehr Authentizität.
Von den ursprünglich 30 Sprachen konnten aus Kostengründen letztendlich nur 24 berücksichtigt werden. Aber das sind immer noch weit mehr als man erfassen kann, wenn man dort entlangläuft oder -fährt.
Besser als ein einfaches „Hallo“ in einem Dutzend Sprachen
Zwar werden die meisten Autofahrer die Frage nach dem Woher morgens wohl einfach mit „von zu Hause“ und die nach dem Wohin mit „auffe Abbeit“ beantworten – und nachmittags umgekehrt. Aber vielleicht wird der eine oder andere doch dazu angeregt, sich tiefschürfendere Gedanken zu machen. Über die eigene Herkunft oder darüber, wohin man geht, wenn das letzte Stündlein geschlagen hat.
Die Installation ist damit schon einmal um Klassen besser als das sonst etwa in Einkaufszentren übliche simple „Hallo“ oder „Willkommen“ in einem Dutzend Fremdsprachen.
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Richard Schneider