Sprache färbt das Denken

Guy Deutscher: Im Spiegel der SpracheSprache ist nicht mehr eine Gesamtheit von Laut-Zeichen zur Übermittlung von Gedanken. Sprache generiert das Denken und somit die Gedanken. Nach Humboldt schuf die Sprache erst das eigentliche Denken des Menschen. Durch Sprache wird die vorher ungekannte Wahrheit entdeckt. Das Denken variiert jedoch von Sprache zu Sprache. Es gibt also verschiedene „Weltansichten“, so Humboldt. Die Menschen denken anders, da Wörter unterschiedliche Bedeutungen in unterschiedlichen Sprachen haben und grammatische Unterschiede in den Sprachen vorliegen.

Man ist früher also davon ausgegangen, dass man aufgrund der Grammatik und Lexik einer Sprache auf die Mentalität der Menschen schließen kann. Man setzte die Weltansicht mit der Weltanschauung gleich. Doch im Laufe der Jahrhunderte erkannte man, dass dies nicht so ist. Ein Italiener beispielsweise kennt den Unterschied zwischen einer Treppe und einer Leiter, auch wenn er dafür nur ein Wort, nämlich scala, in seinem Wortschatz besitzt. Wenn ein Deutscher „Anna singt“ sagt, dann weiß ein anderer Deutscher, ob Anna singt oder ob Anna eine Sängerin ist. Die Engländer dagegen bedienen sich hierbei bestimmten Zeiten, denn es gibt einen Unterschied zwischen „Anna sings“ und „Anna is singing“.

Die Sprecher einer Sprache haben die Fähigkeit über die Sprache hinauszudenken. Stimmt die Äußerung Ludwig Wittgensteins „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“? Zumindest ist diese Auffassung weit verbreitet. Unterschiedlich aufgebaute Sprachen bringen verschieden gedachte Welten für deren Sprecher hervor.

Guy Deutscher hat zu diesem Thema ein Buch geschrieben: „Through the Language Glass: Why the World Looks Different in Other Languages“. Es wurde auch ins Deutsche übersetzt und hat den Titel „Im Spiegel der Sprache: Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht“. Die Ansichten in Bezug auf die Kultur und Sprache werden von der „Welt“ und von dem Menschen selbst beeinflusst. Doch die Sprache schafft ihr eigenes kulturelles Denken, d.h. also die „Weltansicht“. Sprache färbt das Denken, so Deutscher.

Letztendlich liegt der Unterschied der Sprachen darin, was sie sagen müssen und nicht darin, was sie sagen können. Dies bedeutet also, dass sich die Sprecher beim Sprechen an die vorgegebenen Strukturen einer Sprache anpassen müssen. Somit bestimmen die Sprachstrukturen gewissermaßen das, was die Sprecher sagen müssen, allerdings nicht das Denken der Sprecher.

Die Farbe der Sprache färbt das Denken. Daher erwecken beispielsweise Genusunterschiede unterschiedliche Assoziationen in verschiedenen Sprachen. Der Tod bzw. der Sensemann ist im Deutschen männlich, im Französischen dagegen weiblich („la mort“). Somit ist das Denken der Deutschsprechenden doch zumindest etwas „deutsch“. Doch dieser Unterschied im Genus eines Wortes ist nicht ganz so schlimm, denn bei Englisch beispielsweise handelt es sich um eine Sprache ohne Genus. Der Mensch bzw. der menschliche Geist macht beim Malen seiner Ansichten von der und über die Welt von verschiedenen Farbtupfern sowie geistigen Farben Gebrauch. Und dies ist die wunderbare Vielfalt der Operationen des menschlichen Geistes wie Leibniz sagte, „la merveilleuse variété des opérations de notre esprit“.

Zum Buch
Guy Deutscher. Im Spiegel der Sprache: Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. ISBN 978-3-406-60689-2. C.H.Beck, 2. Auflage, München 2010. 320 Seiten. 22,95 Euro.

Inhaltsverzeichnis

TEIL I
Die Sprache als Spiegel

1. Das weindunkle Meer
2. Das Auge der Seele
3. Naturvölker am Kurfürstendamm
4. Die vor uns unsere Dinge sagten
5. Platon und der makedonische Schweinehirt

TEIL II
Die Sprache als Linse

6. Der mit dem Whorf tanzt
7. Wo die Sonne nicht im Osten aufgeht
8. Sex und Syntax
9. Grün und blau vor Augen

Nachwort: Vergib uns unsere Unwissenheit

Anhang – Farbe: Im Auge des Betrachters

Eine Leseprobe finden Sie hier.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: Süddeutsche Zeitung, 05.10.2010; Verlag C. H. Beck. Bild: C. H. Beck.]