Preußen, Reich und Auswärtiges Amt planen Seminar für orientalische Sprachen in Berlin

Seminar für orientalische Sprachen, Berlin
In einem repräsentativen Bau im Stadtzentrum, der Alten Börse am Berliner Lustgarten, hatte das Seminar für orientalische Sprachen seinen ersten Sitz (1887-1893). - Bild: Grafik von Leopold Ludwig Müller, 1820, gemeinfrei

Seit wann gibt es in Deutschland spezielle Studiengänge für Dolmetscher und Übersetzer? Seit 135 Jahren. Im Jahr 1887 nahm an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (ab 1949 Humboldt-Universität zu Berlin) das Seminar für orientalische Sprachen seinen Betrieb auf.

Ein Jahr zuvor wurde dem Bundesrat ein Gesetzentwurf zu dessen Gründung zugeleitet. Diesem war eine Denkschrift beigefügt, in der es heißt:

Bei der fortschreitenden Entwicklung unserer Beziehungen zu Asien und Afrika hat sich in Deutschland in neuerer Zeit ein vermehrtes Bedürfniß nach Erweiterung der Kenntniß der Sprachen des Orients und Ostasiens, und zwar sowohl im Interesse des Dolmetscherdienstes, als auch für andere Berufszweige, dringend fühlbar gemacht.

Es ist in Aussicht genommen, dasselbe nach Analogie der in Wien [Kaiserlich-königliche Akademie der Orientalischen Sprachen, seit 1754] und Paris [École des Jeunes de langues, seit 1669; heute INALCO, Institut national des langues et civilisations orientales] bestehenden orientalischen Sprachschulen durch eine ähnliche Einrichtung in Deutschland zu befriedigen und zu diesem Zweck bei der hiesigen königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität ein Seminar für orientalische Sprachen in das Leben zu rufen.

Die Errichtung des Seminars ist als preußische Einrichtung, jedoch unter Betheiligung des Reichs, beabsichtigt.

Siegelmarke Seminar für orientalische Sprachen
Siegelmarke des Seminars für orientalische Sprachen an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (Durchmesser: 4 cm). – Bild: UEPO

Das Berliner Tageblatt berichtet am 29. April 1886 geradezu euphorisch über diese Entwicklung:

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Das Berliner Orientalisten-Seminar.

Nur noch die Assistenten fehlen; die Lehrer und die Schüler sind schon da, Beide in großer Zahl, es braucht also die Eröffnung des Orientalisten-Seminars nicht allzu lange hinausgeschoben zu werden, nachdem die Errichtung des Instituts ganz von selbst sich gemacht hat.

Das ist auch kein Wunder bei den Lehrkräften, über welche unsere Berliner Hochschule seit vierzig Jahren zu verfügen gehabt hat. Hier wurden die Orientalia in aller Stille und Zurückgezogenheit mit einer Liebe gepflegt, die uns die Bewunderung des Auslandes, namentlich Großbritanniens einbrachte, obwohl doch gerade das Inselreich als erste orientalische Macht naturgemäß darauf verwiesen war, die Sprachen seines weiten Kolonialgebiets erforschen zu lassen, um die Ergebnisse der Sprachgelehrten kaufmännisch zu verwerthen.

Die Aussicht auf immer neuen Gewinn machte die Engländer zu Pflegern der Sprachwissenschaft, allein Alles kam ihnen zunächst darauf an, mit den Chinesen, den Indern, den Arabern, den Aethiopiern und Persern sich überhaupt zu verständigen, die Sprachen dieser und anderer Völker rasch zu erfassen, die wissenschaftliche Ergründung der Sprachen des Orients aber Anderen zu überlassen, und diese Anderen waren die deutschen Gelehrten.

Oxford war zwar eine gute Lehrerin der orientalischen Sprachen, aber keine Meisterin der Sprachwissenschaft, und insoweit Deutschland in diese letztere Funktion eintrat, wurde es von den Engländern beharrlich in Anspruch genommen, um ihnen bei Befestigung und Verwerthung ihres Kolonialbesitzes als Sprachmeister behilflich zu sein. So hat sich denn zwischen Oxford und Berlin ein Freundschafts-Verhältniß herausgebildet, das in dem Maße intimer wurde, als die deutsche Sprachwissenschaft an Ansehen zunahm. Und heute räumen die Engländer den deutschen Orientalisten neidlos ein, daß sie auf dem Sprachengebiet des Orients unbestritten die Meister sind.

Um nun an unserer Friedrich-Wilhelms-Universität ein förmliches Seminar für Orientalisches zu haben, lag bisher kein zwingender Grund vor, denn Preußen und das Reich hatten bis vor Kurzem keinen Kolonialbesitz, dessen Erwerbung und Befestigung ein systematisches Zusammenfassen auch der sprachlichen Kräfte nöthig gemacht hätte. Jetzt ist dies plötzlich anders geworden, und wie im Umsehen gelangt das Reich zu einem Institute, das den deutschen Missionaren, Kaufleuten, Konsuln und Reisenden sich zur Verfügung stellt. Wir haben an der Friedrich-Wilhelms- Universität Lehrer, nach deren Grammatiken, Lehrbüchern und Uebersetzungen nahezu 300 Millionen Inder, viele Millionen Aethiopier, Araber, Perser und Chinesen ihre Sprache verstehen lernen.

Ja, es ist ein wunderbares Ding um diese völlig geräuschlose Wissenschaftlichkeit in Berlin, die dem Deutschthum Ruhm und Ehre schon zu einer Zeit eingebracht hat, als wir hier politisch so gut wie gar nichts bedeuteten, und als dann das deutsche Reich entstand, da besannen sich die vielen Millionen Menschen im asiatischen wie afrikanischen Orient auf ihre Sprachmeister, und sie begriffen rasch, welchen Anspruch die Heimath ihrer Unterweiser auch auf politisches Ansehen haben müßte.

Was Berlin jetzt durch seine Orientalistenschule an neuem Einfluß und erhöhtem Ansehen gewinnt, dafür hat es sich bei Männern wie Albrecht Weber, August Dillmann, Johannes Schmidt, Sachau und vielen, vielen Anderen zu bedanken, die ihr Leben selbstlos in den Dienst der Wissenschaft und der Menschheit gestellt haben.

Von dem neuen Seminar werden wir nichts gewahren, denn die sprachlichen Unterweisungen uud Uebungen gehen in den Auditorien der Universität vor sich, und die Herren Assistenten, die als geborene Orientalen den gelehrten Professoren zur Hand gehen, werden gekleidet sein wie wir und also nur durch ihre Gesichtszüge von uns Uebrigen sich unterscheiden. Auch sind wir ja seit geraumer Zeit daran gewöhnt, Asiaten uud Afrikaner unter uns sich bewegen zu sehen. Aber interessant bleibt das Zusammenwirken der orientalischen Männer mit unsern Gelehrten unter allen Umständen, und wir sind damit um einen Schritt weiter der Großartigkeit des geistigen wie des Verkehrslebens näher gekommen.

Die Summen, die für die hochwichtige Neuerung von unseren Parlamenten verlangt werden, sind verschwindend gering im Verhältniß zu dem wissenschaftlichen Nutzen. Auch wird unsere Stadt um ein Institut reicher, das ihr neue Gäste auf lange Zeit zuführen wird. Das Beste aber an der Sache ist, daß unsere hochberühmten Sprachgelehrten auch einmal einen äußeren glänzenden Erfolg erringen.

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Wie schon gestern erwähnt, sind dem Gesetzentwurf betreffend die Errichtung eines Seminars für orientalische Sprachen bei der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin die Grundlagen für eine zwischen dem Reich und Preußen auszuschließende Vereinbarung sowie eine Erklärung des königlichen Staatsministeriums beigefügt, in welcher letzteres seine Zustimmung zu der Vereinbarung erklärt. Diese Grundlagen besagen:

1) Die königlich preußische Regierung wird dem preußischen Landtage so bald als thunlich eine Vorlage machen, durch welche die Bewilligung der Mittel zur Errichtung eines Seminars für orientalische Sprachen bei der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gefordert wird.

2) Aufgabe des Seminars wird es sein, den theoretischen Unterricht in den lebenden orientalischen Sprachen mit praktischen Uebungen zu verbinden und dadurch künftigen Aspiranten für den Dolmetscherdienst, sowie Angehörigen sonstiger Berufsstände, welche den erforderlichen Grad geistiger und sittlicher Reife besitzen, neben der theoretischen Erlernung besonders die praktische Anwendung dieser Sprachen zu ermöglichen.

3) Zu diesem Zwecke sind im Einzelnen folgende Einrichtungen in Aussicht genommen:

a. an dem Seminar werden vorläufig und vorbehaltlich künftiger Aenderungen im Verwaltungswege folgende sechs Sprachen gelehrt: Türkisch, Arabisch, Persisch, Indisch, Japanisch und Chinesisch;

b. in der Regel werden für jede Sprache je zwei Lehrer angestellt, ein theoretisch gebildeter, womöglich durch längeren Aufenthalt in dem betreffenden Lande mit der Landessprache vertrauter deutscher Lehrer, und ein aus den Eingeborenen des betreffenden Landes entnommener Assistent, welcher mit den Besuchern deS Seminars praktische Uebungen hält;

c. die Kurse in dem Seminar sind unentgeltlich zu halten, vorbehaltlich etwaiger im Verwaltungswege zu treffender Ausnahmebestimmungen;

d. zur Förderung deS Seminars werden Jahresstipendien im Gesammtbetrage von 9000 Mark für unbemittelte deutsche Seminaristen errichtet, deren Vertheilung auf die einzelnen Sprachen dem Verwaltungswege vorbehalten bleibt;

e. für die Besucher des Seminars wird eine über den Erfolg des erlangten Unterrichts nach einem näherer Feststellung vorbehaltenen Reglement abzulegende Schlußprüfung eingeführt. Die Ablegung derselben ist zwar nicht obligatorisch, jedoch wird das Auswärtige Amt in Zukunft solchen Aspiranten für den Dolmetscherdienst, welche diese Prüfung bestanden haben, und im Uebrigen geeignete Qualifikation besitzen, vor anderen Aspiranten vorzugsweise Berücksichtigung zu Theil werden lassen.

4) Zu den für das Seminar aufzuwendenden Geldmitteln wird das Reich einen Beitrag in Höhe der Hälfte derselben mit der Maßgabe leisten, daß vorbehaltlich künftiger anderweiter Vereinbarung der Beitrag zu den Kosten der ersten Einrichtung 20.000 M., der Beitrag zu den jährlichen Kosten 36.000 Mark nicht überschreiten darf.

5) Die Organisation und Verwaltung des Seminars erfolgt unter Mitwirkung des auswärtigen Ressorts.

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Berliner Kongress
Auf dem Berliner Kongress 1878 soll sich Bismarck darüber aufgeregt haben, dass ihm kein Türkisch-Dolmetscher zur Verfügung stand. – Bild: „Der Kongress zu Berlin“ von Anton von Werner, gemeinfrei

Bismarck selbst soll sich für die Einrichtung eingesetzt haben

In der Gründungsphase des Seminars 1886-1887 war Wilhelm I. preußischer König und deutscher Kaiser, Otto von Bismarck war preußischer Ministerpräsident und erster Reichskanzler des Deutschen Reiches.

Bismarck selbst soll sich in den Jahren zuvor für den Aufbau eines Seminars für orientalische Sprachen ausgesprochen haben, seit er sich beim Berliner Kongress 1878 darüber echauffierte, dass ihm kein Dolmetscher für das Türkische zur Verfügung stand.

Maria Theresia
Porträt Maria Theresias von Jean-Étienne Liotard aus dem Jahr 1762. – Bild: gemeinfrei

Kaiserlich-königliche Akademie der Orientalischen Sprachen in Wien schon 133 Jahre früher gegründet

Übrigens: In Österreich kann die universitäre Dolmetscherausbildung auf eine noch viel längere Tradition zurückblicken. Maria Theresia gründete bereits 1754 in Wien die Kaiserlich-königliche Akademie der Orientalischen Sprachen.

Bei den Überlegungen zur Gründung des Berliner Instituts wurde auf die renommierte Akademie in Wien, die zu dem Zeitpunkt schon auf 133 erfolgreiche Jahre zurückblicken konnte, ausdrücklich Bezug genommen.

Im deutschsprachigen Raum bestehen also seit 268 Jahren spezielle Studiengänge für Dolmetscher und Übersetzer.

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Richard Schneider