Der Sprachwissenschaftler Dr. Christian Bentz erforscht an der Universität Passau im ERC-Projekt EVINE mit neuen computerwissenschaftlichen Methoden Zeichen, die noch vor Erfindung der Schrift entstanden sind.
Informations-Externalisierung durch Schriftzeichen
Menschen haben die Fähigkeit, Informationen außerhalb ihres Geistes zu speichern und weiterzugeben. Die Erlangung dieser Fähigkeit ist ein Meilenstein in der menschlichen Evolution. Sie spiegelt sich in der Verwendung von Symbolen und geschriebener Sprache wider und ist die Grundlage für künstliche Rechensysteme in der Moderne. Erste Spuren dieser Informations-„Externalisierung“ lassen sich bis ins Paläolithikum vor ca. 400.000 bis 11.000 Jahren zurückverfolgen.
Hier setzt das Projekt „The Evolution of Visual Information Encoding“ (EVINE) unter der Leitung von Dr. Christian Bentz an. Gemeinsam mit der Archäologin Dr. Ewa Dutkiewicz vom Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin, untersucht er die statistischen Eigenschaften paläolithischer Zeichen.
Visuelle Informationskodierung schon im Paläolithikum?
Die Vermutung ist, dass sich eine wichtige Komponente der menschlichen Sprachfähigkeit, die symbolische Kombinatorik, bereits im Paläolithikum entwickelt hat. Im EVINE-Projekt sollen die Spuren dieser Fähigkeit in der archäologischen Überlieferung untersucht werden.
Zurück in die Altsteinzeit vor 50.000 Jahren. Damals traten frühe Menschen ihre Reise aus Afrika in den Rest der Welt an. Auf ihrem Weg haben sie vielerlei Artefakte hinterlassen. Einige davon tragen Spuren visueller Informationskodierung: geometrische Zeichen.
Aktuelle Analysen vereinzelter Artefakte aus der experimentellen Archäologie ergeben, dass es sich sehr wahrscheinlich um frühe Formen von sogenannten „mnemonischen Techniken“ handelt, also visualisierten Gedächtnisstützen.
Häufung von Zeichensystemen im Jungpaläolithikum
Eine systematische Häufung solcher Artefakte tritt in Europa zum ersten Mal mit Ankunft des modernen Menschen auf, sagt Dr. Bentz:
Die archäologische Literatur weist darauf hin, dass die Zeichensysteme im Laufe des Jungpaläolithikums, also von etwa 43.000 bis 11.000 Jahren vor heute, immer komplexer wurden. Wie allerdings diese Veränderungen der Komplexität zu deuten sind, bleibt eine offene Forschungsfrage.
Analyse mit Verfahren aus der Computerlinguistik
Das Team hat sich vorgenommen, diese Frage mit Hilfe von neuen, computergestützten Methoden zu lösen. Dazu werden relevante archäologische Funde in einer Datenbank erfasst. Darauf aufbauend werden die Übergänge in der Informationskodierung mit Methoden aus der Computerlinguistik beleuchtet.
Die Forscher ziehen also Maße aus der Informationstheorie und quantitativen Linguistik sowie Klassifikations-Algorithmen heran, die auf paläolithische Zeichen, frühe Keilschrift-Texte und moderne Schrift angewendet werden.
Dr. Bentz ist sich sicher: „Diese Herangehensweise wird ein neues Licht werfen auf die Frage, wie sich die visuelle Informationskodierung von den frühesten Zeichen bis hin zur Schrift entwickelt hat.“
Bentz forscht am Lehrstuhl für Multilinguale Computerlinguistik in Passau
Der Sprachwissenschaftler Dr. Christian Bentz ist seit April 2024 Akademischer Rat am Lehrstuhl für Multilinguale Computerlinguistik an der Universität Passau. Die renommierte Förderung ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrates hat er für sein Projekt EVINE noch an der Universität Tübingen eingeworben, wo er von 2016 bis 2024 tätig war.
Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) ist eine von der Europäischen Kommission eingerichtete wissenschaftsgeleitete Institution zur Förderung von exzellenten Wissenschaftlern mit bahnbrechenden Forschungsprojekten. Die Forschungsgruppe um Dr. Bentz an der Universität Passau wird über eine Laufzeit von 5 Jahren mit 1,5 Millionen Euro gefördert.
Die Gruppe arbeitet an der Universität Passau eng zusammen mit dem Lehrstuhl für Multilinguale Computerlinguistik. Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Johann-Mattis List ist ebenfalls Leiter einer vom ERC geförderten Forschungsgruppe, dem ERC Consolidator Grant Produsemy. Dort wird mit Hilfe von computergesteuerten Modellen untersucht, wie Wortfamilien in verschiedenen Sprachen entstehen. „Die Zusammenarbeit mit Dr. Bentz ist für uns sehr wertvoll und bereichert die Sprachwissenschaft an der Universität Passau thematisch und methodisch“, sagt Prof. Dr. List.
Groß ist auch die Freude bei Prof. Dr. Ulrich Bartosch, dem Präsidenten der Universität Passau: „Ich freue mich sehr, dass wir mit Prof. Dr. List und Dr. Bentz Forscher mit höchsten europäischen Forschungsförderungen für unsere Universität gewinnen konnten.“
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Kathrin Haimerl (Universität Passau)