„Weder richtig noch gerecht, sondern konfus“ – Ingolf U. Dalferth kritisiert Bibel in gerechter Sprache

Bibel in gerechter Sprache
Bild: Gütersloher Verlagshaus

Der an der ETH Zürich Religion, Symbolik und Religionsphilosophie lehrende evangelische Theologe Prof. Dr. Ingolf U. Dalferth kritisiert die vor wenigen Wochen veröffentlichte Bibel in gerechter Sprache. Von der Qualität anderer reformatorischer Übersetzungen wie der Lutherbibel sei die Bibel in gerechter Sprache weit entfernt, schreibt er in der Neuen Zürcher Zeitung.

Die Übersetzung gehe von Annahmen aus, die weder begründet noch bewiesen seien. Es handle sich um eine „Neuübersetzung, die nicht richtig, sondern «gerecht» zu übersetzen beansprucht“, so Dalferth. „Sie traut den Lesern gar nichts zu, sondern schreibt ihnen unablässig vor, wie sie verstehen sollen, was sie lesen.“ Offenbar sei es in erster Linie darum gegangen, „den Impulsen der Befreiungstheologie, der feministischen Theologie und des jüdisch-christlichen Dialogs gerecht zu werden“.

Die Übersetzung könne nicht gleichzeitig „geschlechtergerecht“, „gerecht im Hinblick auf den christlich-jüdischen Dialog“ und „sozial gerecht“ sein sowie „dem Ausgangstext gerecht werden“.

So löblich diese Ziele je für sich sein mögen, sie schliessen sich gegenseitig aus, wenn man die biblischen Texte als Zeugnisse einer anderen Zeit und Kultur ernst nimmt. Vor allem aber sind sie keine philologisch brauchbaren Übersetzungsprinzipien. Kein Text der Bibel wurde in der Absicht verfasst, geschlechtergerecht, antidiskriminatorisch und frei von Antijudaismus zu sein.

Diese Texte entstammen Zeiten, die von anderen Anliegen bewegt waren. Die Bibel ist durchzogen von tiefen Spuren innerer Spannungen, Entwicklungen und Neuentdeckungen, die sich nicht gesinnungsgerecht harmonisieren lassen. Eine sachgerechte Übersetzung darf das nicht verwischen. Sie muss es gerade deutlich machen, um eine kritische Auseinandersetzung zu ermöglichen.

Selbstverständlich kann man die Bibel unter den genannten (und manchen anderen) Gesichtspunkten kritisch lesen und auslegen. Aber sie so zu übersetzen, also im Deutschen als das zu präsentieren, was die Originaltexte sagen, ist schlicht irreführend. Das kann man nur tun und meinen, weil man sich nicht von den Texten, sondern von Vorurteilen leiten lässt.

Zwar gebe es „keine Übersetzung ohne Deutung“, doch sei es falsch, „jede Deutung als Übersetzung auszugeben“. Dalferth belegt an zahlreichen Beispielen, was er damit meint:

Ohne Rücksicht auf historische Realitäten gibt es jetzt «Hirten und Hirtinnen», «Verwalter und Verwalterinnen», «Pharisäerinnen und Pharisäer», «Zöllnerinnen und Zöllner». Nicht nur der kluge Mann baut sein Haus auf den Felsen, sondern die kluge Frau und der vernünftige Mann. Das Liebesgebot lautet nicht mehr, seinen Nächsten zu lieben, sondern seine Nächste und seinen Nächsten. Aus den wenigen Hinweisen auf eine Prophetin (Hulda), eine Richterin (Debora), eine Apostelin (Junias) und einige Jüngerinnen wird eine generelle Regel konstruiert, überall mit Frauen zu rechnen, wo ihre Anwesenheit nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird. […]

Werden an diesen und ähnlichen Stellen die Texte ohne Not erweitert und ausgedeutet, so werden sie an anderen gezielt umgedeutet. So sagt der johanneische Jesus «Ich bin der wahre Weinstock, und Gott ist meine Gärtnerin», obwohl im griechischen Grundtext klar «Mein Vater ist der Weingärtner» steht. Der Johannesprolog beginnt nicht mehr mit «Am Anfang war das Wort», sondern mit «Am Anfang war die Weisheit», weil «der johanneische Jesus . . . auch viele Züge der weiblichen göttlichen Gestalt der Weisheit» trage. Der Heilige Geist wird zur «heiligen Geisteskraft», Jesus vom Sohn zum neutralen «Kind Gottes». Lehrte er seine Jünger bis anhin, «Unser Vater im Himmel» zu beten, so fordert er jetzt die «Töchter und Söhne Gottes, eures Vaters und eurer Mutter im Himmel», auf, zu Gott, dem Vater und der Mutter im Himmel, zu rufen (Mt 6, 9). Ohne Angst vor Absurditäten fliessen hier Übersetzung und geschlechterfaire Deutung ineinander. Doch so gewiss es keine Übersetzung ohne Deutung gibt, so falsch ist es, zu folgern, jede Deutung lasse sich als Übersetzung ausgeben. […]

[…] Dagegen steht dort eindeutig, dass nicht der Mann, sondern «der Mensch» (ha-adam) und seine Frau sich nicht schämten, obwohl sie nackt waren (Gen 2, 25), während die neue Übersetzung sichtlich bemüht vom «männlichen Menschen», vom «Mann-Mensch» oder vom «Mensch als Mann» reden zu müssen meint. Offenbar kann oder will man nicht akzeptieren, dass der Erzähler dieses Textes sich eben nicht geschlechtergerecht, sondern unverblümt androzentrisch ausdrückt. Das aber müsste eine Übersetzung sichtbar machen und nicht sprachakrobatisch verwischen, wenn sie zur kritischen Auseinandersetzung mit den biblischen Texten befähigen will.

Doch der Tiefpunkt dieser Übersetzung ist ihre durchgehende Tendenz, sachliche Differenzen innerhalb der Bibel zu verharmlosen und theologische Entwicklungen aus ideologischen Gründen zu verdunkeln. In den sogenannten Antithesen der Bergpredigt etwa setzt Jesus nicht mehr sein «Ich aber sage euch» der Tora-Überlieferung entgegen, sondern macht nur noch einen freundlichen Auslegungsvorschlag: «Ihr habt gehört, dass Gott gesagt hat: Du sollst nicht ehebrechen. Ich lege euch das heute so aus: . . .» (Mt 5, 27f). Heute so und morgen anders. Nur eines darf es auf keinen Fall geben: einen wirklichen Widerspruch zwischen Tora und Jesu Lehre. Der Antijudaismus-Vorwurf an Jesus wäre sonst nicht zu vermeiden. […]

Schliesslich und vor allem aber geht die Übersetzung auf schlechterdings unverantwortliche Weise mit den biblischen Gottesbezeichnungen um. Weil der Gottesname Jahwe (das Tetragramm) seit biblischer Zeit von orthodoxen Juden aus religiöser Scheu (und nicht etwa, weil er «unaussprechbar» wäre) nicht mehr ausgesprochen wird, wird er auch in dieser Übersetzung gemieden und durch wechselnde andere Bezeichnungen ersetzt: «der Ewige, die Ewige, Schechina, Adonaj, ha-Schem, der Name, Gott, die Lebendige, der Lebendige, Ich-bin-da, ha-Makom, Du, Er Sie, Sie Er, die Eine, der Eine, die Heilige, der Heilige». Nur «Herr» oder «Kyrios», im antiken Judentum, in der Septuaginta und im Neuen Testament die gängigen Gottesbezeichnungen, werden aus durchsichtigen Gründen erst gar nicht mehr erwähnt.

Welche Variante aus dieser Palette in der Übersetzung jeweils gewählt wird, hat nichts mit dem Ausgangstext zu tun, sondern wechselt in völliger Willkür. […]

Der abstrakten Gotteshermeneutik dieser Übersetzung bleibt jeder Zugang zur Einsicht in die geschichtlichen, sprachlichen und theologischen Prozesse verstellt, in denen sich das Gottesverständnis der Bibel entwickelt hat, in denen es in Sackgassen geriet, durch geschichtliche Ereignisse erschüttert und bereichert wurde, zu Revisionen und bleibenden Klärungen gekommen ist und hinter die nur um den Preis zurückgegangen werden kann, tief reichende theologische Einsichten zu verspielen und die religiöse Identität von Juden und Christen nicht ernst zu nehmen.

Der Religionsphilosoph und Theologe Ingolf U. Dalferth kommt zu dem Schluss, die Bibel in gerechter Sprache sei „nicht textgerecht und richtig, sondern schlicht schlecht, falsch und nichtig“.

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[Text: Richard Schneider. Quelle: NZZ, 2006-11-18.]