Flüchtlinge: Laiendolmetscher erhalten in Berlin 13 Euro pro Stunde – Boom geht an Berufsdolmetschern vorbei

Die Bundesregierung rechnet für das Jahr 2015 mit rund 450.000 Flüchtlingen. Zur Erfassung und Verwaltung des Zustroms sind die Behörden auf Dolmetscher angewiesen. Für diese verantwortungsvolle Aufgabe werden jedoch fast ausschließlich Laiendolmetscher herangezogen.

Die Saarbrücker Zeitung berichtet über die aus Syrien stammende Kunststudentin Natalia Ali, die in ihrer Freizeit für die Berliner Behörden arbeitet:

Die 29-Jährige dolmetscht für das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) – die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge in der Hauptstadt. Wie sie sind viele der dort tätigen gut 100 Sprachmittler keine Profis. […] Bevor Ali zum Berliner Landesamt kam, dolmetschte sie schon bei anderen Beratungsstellen Arabisch und Russisch. Die junge Frau aus Syrien begleitete Menschen zum Jobcenter, Arzt oder zur Wohnungsbesichtigung. Es war ihre Vorbereitung auf den Job. Eine weitere Einführung gab es nicht, lediglich eine Begleitung durch erfahrene Kollegen. […] Studenten wie Ali bekommen in Berlin 13 Euro die Stunde.

In demselben Artikel wird auch die Ansicht des Bundesverbandes der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ) wiedergegeben, Laien seien beim Dolmetschen in solchen Situationen oft überfordert. Gerade wenn es um medizinische und juristische Fragen gehe, sei der Einsatz von Berufsdolmetschern vorzuziehen. Denn ein Dolmetschfehler könne für Flüchtlinge fatale Folgen haben.

„Für Profis fehlt Kommunen das Geld“

Warum von den Behörden praktisch keine Berufsdolmetscher beauftragt werden, wird im Artikel auch erklärt: „Für Profis aber fehlt den Kommunen das Geld.“ Besagte Profis berechnen üblicherweise den vier- bis fünffachen Stundensatz. Bei Gericht erhalten sie 70 Euro pro Stunde.

Kein „Goldrausch“ für Berufsgruppe der Übersetzer und Dolmetscher

„Asyl-Industrie im Goldrausch“ lautet eine aktuelle Überschrift im Nachrichtenmagazin Focus (10.08.2015). Gemeint sind vor allem die Besitzer von Schrottimmobilien und private Betreiber von Asylbewerberheimen und Sicherheitsdiensten, die zu den Hauptprofiteuren der Flüchtlingswelle gehören.

Nach Focus-Recherchen werden 2015 rund 7 Milliarden Euro für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen ausgegeben (wenn es bei der Zahl von 450.000 Einwanderern bleibt). Davon fällt jedoch erstaunlich wenig für die Berufsgruppe der Sprachmittler ab, obwohl ihr eine entscheidende Scharnierfunktion zukommt.

Wenn von den Behörden oder Betreibergesellschaften überhaupt Honorare gezahlt werden, sind diese für Berufsdolmetscher unattraktiv. Nur vereinzelt wurden neue halbtags- oder Vollzeitstellen eingerichtet.

An den etablierten und in den Berufsverbänden organisierten Übersetzern und Dolmetschern scheint der Boom vorbeizugehen. Stattdessen bildet sich ein ganz neues Marktsegment heraus, in dem fast ausschließlich Laiendolmetscher tätig sind.

Vielen, die bislang nur gelegentlich als Dolmetscher aushalfen, ist jetzt auf Jahre hinaus Vollbeschäftigung garantiert – wenn auch zu vergleichsweise schlechten Konditionen. Für einige der bisherigen Nebenberufler könnten sich daraus neue Perspektiven als Berufsdolmetscher ergeben.

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[Text: Richard Schneider. Quelle: Saarbrücker Zeitung, 2015-07-27.]