Russisch in Deutschland: Handbuch zu Migration, Mehrsprachigkeit, Spracherwerb erschienen

Wassily Kandinsky: Gelb, Rot, Blau
„Gelb - Rot - Blau“: Ein Gemälde des russischen Künstlers Wassily Kandinsky (1866-1944), dem Wegbereiter der abstrakten Kunst. Das Werk entstand 1925 in Weimar. Kandinsky lebte und wirkte fast 30 Jahre in Deutschland (1897-1914 und 1921-1933). Seit 1928 besaß er die deutsche Staatsangehörigkeit. 1933 emigrierte er nach Frankreich. - Bild: gemeinfrei

Ende 2019 ist im Wissenschaftsverlag Frank & Timme das Handbuch des Russischen in Deutschland: Migration – Mehrsprachigkeit – Spracherwerb erschienen. Hans-Werner Huneke von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg stellt das Werk mit Beiträgen von mehr als vierzig Autoren im Vorwort vor:

*

Mehrere Millionen Menschen in Deutschland sprechen Russisch

Wie viele Menschen in Deutschland sprechen Russisch? Die Beitragenden in diesem Band nennen unterschiedliche Zahlen – „bis zu 3 Millionen“ aber auch 4,5 Millionen. Dabei weisen sie jedoch ausnahmslos daraufhin, wie unsicher der Versuch einer Antwort auf solch eine Frage ausfallen muss. Die Frage selbst ist nämlich unpräzise gestellt:

  • Was heißt „Russisch“? Welche Varietäten, welches Repertoire an Varietäten sollen eingeschlossen sein? Geht es um gesprochene oder auch um geschriebene Sprache, konzeptionell und medial? Geht es um Allgemeinsprache oder auch um die Bildungssprache, die Fach- und Berufssprachen? Ist die Sprachverwendung durch Lernende des Russischen als Fremdsprache eingeschlossen? Ab welcher Niveaustufe? Und wie sieht es mit der sprachlichen Kompetenz im Verlauf eines Prozesses des allmählichen Sprachverlustes, des Backsliding, aus?
  • Was heißt „sprechen“? Sind alle vier sprachlichen Fertigkeiten gemeint? Zählt nur ein „muttersprachliches“ Niveau? Geht es um die Sprachverwendung in allen oder nur in einer reduzierten Zahl von Domänen wie die Familie oder die Peergroup? Reicht die Fähigkeit zur Verständigung im Alltag aus? Und welcher Alltag wäre das: der in einer russischsprachigen Gemeinschaft in der „Diaspora“ oder der in Russland? Welche der Spielarten von Zweisprachigkeit oder Mehrsprachigkeit sind eingeschlossen?

Umfassende Bestandsaufnahme einer komplexen und vieldimensionalen Situation

Man sieht: Die Dinge sind komplex und vieldimensional. Das vorliegende Handbuch weicht dieser Komplexität nicht aus, es stellt sich ihr und nimmt folglich viele unterschiedliche Perspektiven ein:

Handbuch des Russischen in DeutschlandDie Beiträge stellen die kommunikative Reichweite und die verschiedenen Varietäten des Russischen in Russland, im „nahen“ und „fernen“ Ausland und in Deutschland aus sprachsystematischer, soziolinguistischer und pragmatischer Sicht dar, sie untersuchen die Konstruktion von Bildern vom Russischen, den Bezug zu Medien, Literatur und Kunst, sie schließen die Subjektivität der Individuen und die Prozesse ihrer Identitätsaushandlung ein. Sie gehen auch auf die verschiedenen Phasen und Typen von Migration ein. So etwas erwartet man von einem Handbuch des Russischen in Deutschland.

Dieses Handbuch geht aber darüber hinaus und erkennt die besondere Bedeutung, die dem Spracherwerb und dem Sprachlernen, der Entwicklung der sprachlichen Fertigkeiten und ihrer Förderung zukommt, wenn es um das Russische in Deutschland und um seine Zukunft geht. Es schließt das Aufwachsen in mehrsprachigen Familien ein, aber auch das Bildungssystem, also Schulen und Hochschulen mit ihren Lehr- und Lernkulturen. Es geht auf die Fremdsprachendidaktik und ganz konkret auf die Fachdidaktik des Russischen ein. Die Perspektive auf das sprachliche Lernen führt bis hin zu einer Didaktik des Sprachkontrasts und der Mehrsprachigkeit.

Ohne diesen intensiven Bezug zum Lernen im Kontext von Mehrsprachigkeit, aber auch ohne den Bezug zum lebendigen Austausch mit dem russischen Sprachraum wären die heutige Ausprägung, die Geschichte und die Perspektiven für die Zukunft des Russischen in Deutschland nicht zu verstehen. Dass diese Bezüge aufgenommen und untersucht werden, wird die Benutzung des Handbuches besonders ertragreich machen.

1. Das Bild von Russland und das Russische in Deutschland

Das erste Kapitel weist darauf hin, dass es ein „russisches Deutschland“ gibt, historisch, literarisch und migrationsbedingt. Eine Begleiterscheinung davon ist, dass Bilder von Russland und vom Russischen in Deutschland konstruiert werden, die die Gestalt von wechselseitigen Stereotypen annehmen können. Zu den Rahmenbedingungen, unter denen solche Stereotype entstehen und funktional werden, gehört die Geschichte der Russlanddeutschen, ihrer Einwanderung aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten.

Aus dem Verlauf der Geschichte dieser Migration mit ihren sehr unterschiedlichen Facetten haben sich charakteristische Situationen und Spielarten von Mehrsprachigkeit ergeben, die sich in spezifischen familien- und generationenbezogenen Sprachbiographien spiegeln und Wege in sprachliche Ausdifferenzierungen wie auch in Prozesse der sprachlichen Integration weisen. Für die einzelnen Sprecherinnen und Sprecher können sie zu einer ganz wesentlichen Ressource werden, auf die beim Aushandeln von Identität zurückgegriffen werden kann.

2. Russisch: In Russland, in Deutschland und in der Welt

Dem Russischen in Russland, Deutschland und der Welt widmet sich das zweite Kapitel. Hier wird das Russische zunächst im Sinne einer überblickshaften Orientierung im Kreis der slavischen Standardsprachen positioniert. Dem schließen sich Beiträge zum rechtlichen und soziolinguistischen Status der russischen Sprache in den einzelnen Nachfolgestaaten der Sowjetunion an, ehe einzelne Aspekte der auswärtigen Sprachpolitik des heutigen Russlands näher untersucht werden.

Mit Blick auf die Sprache selbst werden verschiedene Varietäten des politischen, wirtschaftlichen, religiösen und wissenschaftlichen Diskurses untersucht und zwischen Internationalisierung und spezifischer Ausprägung verortet. Auch der sprachliche Wandel erfuhr nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1989/1991 einen besonderen Schub, der Beitrag hierzu weist vor allem auf die Tendenzen zur Internationalisierung, zur Kolloquialisierung und zur Abschwächung der Kasusfunktionen hin.

Die von Mehrsprachigkeit geprägten Lebenssituationen der meisten Sprecherinnen und Sprecher des Russischen im Ausland fuhren zum Entstehen von Auslandsvarietäten, die u. a. an den Beispielen der USA und Deutschlands charakterisiert und eingeordnet werden. In der Migrationssprache Russisch in Deutschland lässt sich ein spezifischer Mikrosprachwandel beobachten und modellieren. Von potentiell hoher didaktischer Relevanz ist die Beobachtung der Entwicklungen beim Verbalaspekt in der Herkunftssprache Russisch, wie er von Angehörigen der „zweiten Generation“ der Zuwanderer erworben wird.

Mit Sprecherinnen und Sprechern der zweiten Generation des Russischen in Deutschland befasst sich auch der letzte Beitrag des Kapitels. Er zeigt vergleichend an Studierenden, angehenden Sprachmittlern, dass viele Normbrüche in ihrer sprachlichen Performanz auch in Russland anzutreffen sind, also wohl Phänomene des sprachlichen Wandels darstellen.

3. Russisch an Schulen und Hochschulen und im Beruf

Im dritten Kapitel werden die Situation und die Perspektiven des Russischen im schulischen Fremdsprachenunterricht, im Lehramtsstudium und in beruflichen Tätigkeiten, die sich an ein Studium anschließen, untersucht. Russisch ist als schulische Fremdsprache ein voll ausgebautes Fach mit einer langen Tradition, die sich für die vier Jahrzehnte der deutschen Teilung in den beiden deutschen Staaten allerdings unterschiedlich darstellt, mit schulfachlicher und curricularer Absicherung, mit Lehr- und Lernmedien und mit einer hoch entwickelten universitären Philologie als Grundlage. Die Fremdsprache Russisch ist in das Mehrsprachigkeitskonzept der Europäischen Union eingefügt. Die Ausbildung von Lehramtsstudierenden kann sich neben der Fachdisziplin auf eine ebenfalls weit entwickelte Fachdidaktik stützen. Neben einer Tätigkeit als Lehrkraft kann ein slavistisches Studium, das Fähigkeiten und Kenntnisse zum Russischen und zu Russland vermittelt, eine aussichtsreiche Grundlage für eine berufliche Tätigkeit sein, insbesondere, wenn weitere Kompetenzfacetten hinzutreten.

4. Spracherwerb und Sprachkontraste

Das vierte Kapitel setzt sich mit Spracherwerb unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit und mit deutsch-russischen Sprachkontrasten auseinander. An einen vergleichenden Überblicksartikel zum monolingualen und bilingualen Erstspracherwerb des Russischen schließt sich ein Beitrag zum Grammatikerwerb im Deutschen bei zweisprachigen Kindern während der Elementarerziehung an.

Zu den weiteren Themenfeldern gehört der Erwerb der Negation und der Nominalmorphologie bei Lernenden des Deutschen mit Russisch als LI. Eine wesentliche Grundlage für didaktische Fragestellungen und Konzeptionen sind Erkenntnisse zum Sprachkontrast. Dies leistet ein orientierender Artikel, der um den exemplarisch vertiefenden Blick auf Phonetik und Phonologie sowie auf Verfahren der Determination vor dem Hintergrund einer artikellosen Sprache und Phraseologie erweitert wird.

5. Literatur und Kunst

Im fünften Kapitel stehen Literatur und Kunst im Mittelpunkt. Ein Überblick über die deutsch-russischen Kontakte und Beziehungen, über die wechselseitige Wahrnehmung und Wertschätzung in Literatur, Kunst, Architektur, Musik, Tanz und Sport, aber auch in politischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Kontakten und Konflikten wird in Form eines Streifzuges durch mehrere Jahrhunderte des Kontakts und des Austauschs ermöglicht.

An die Gegenwart heran führt ein Beitrag über die russische Literatur, die seit 1991 in einem erfreulichen Umfang in deutscher Übersetzung vorgelegt wurde. Komplementär dazu wird die ebenfalls umfangreiche deutschsprachige migrantische und postmigrantische Gegenwartsliteratur von Autorinnen und Autoren mit einem russischsprachigen Hintergrund vorgestellt.

Zwei exemplarisch vertiefende Nachsuchen gehen je einem ausgewählten prominenten Gegenstand der Beziehungen in Literatur und Kunst nach, dem Umfang und Profil der Lektüre von Puškin im Deutschunterricht sowie im Russischunterricht in Deutschland (quantitativ rückläufig, obwohl mit erheblichem didaktischem Potenzial versehen) und der breiten und traditionsreichen Rezeption von Raffaels Sixtinischer Madonna, die, vermittelt durch Reisende und Besucher, nach Russland getragen wurde und die ihren Teil dazu beigetragen haben mag, dass das Gemälde 1945 als Beutekunst nach Moskau geholt, 10 Jahre später aber nach Dresden zurückgegeben wurde.

6. Bildungssysteme im Vergleich

Das sechste Kapitel stellt das Bildungssystem in Russland dar, in je einem Beitrag zur Elementarerziehung, zum Schulsystem und zum Hochschulsystem. Dabei werden auch aktuelle Reformen und Umgestaltungen einbezogen, etwa die Umgestaltungen im Anschluss an die Übernahme des Bologna-Prozesses. Damit ist eine tragfahige Grundlage für einen Vergleich der Bildungssysteme gegeben.

Die Autorinnen und Autoren des siebten Kapitels widmen sich vor einem didaktischen Interessenhintergrund Fragen der Mehrsprachigkeit in der Schule in Deutschland. Die russisch-deutsche Mehrsprachigkeit steht dabei im Mittelpunkt. Den Rahmen liefert ein Verständnis von Schule in Deutschland als einer durchgängig mehrsprachigen Schule. Das Russische wird dabei zu einer Ressource für den Sprachunterricht und insbesondere auch für den Deutschunterricht. Das Potenzial des Sprachvergleichs für die Wortschatzarbeit und der Verwendung russischer Märchen im Deutschunterricht sind zwei Gegenstände, anhand derer solche konzeptionellen Überlegungen dann exemplarisch vertieft und belegt werden.

Zum Abschluss des Handbuches kommen vier junge Erwachsene zu Wort, die zunächst in Russland oder der Ukraine eingeschult wurden und ihre Schulbildung nach der Übersiedlung in Baden-Württemberg, Brandenburg, Sachsen und Thüringen in einer damals für sie noch fast völlig fremden Sprache fortsetzten. In sehr persönlichen und authentischen Schilderungen beschreiben die vier Texte, welche Klippen es auf dem langen Weg zur Zweisprachigkeit zu überwinden galt, aber auch, wo und von wem sie Hilfestellungen erhielten: Sie erlebten „Höhen und Tiefen und wieder Höhen“.

* * *

Bibliografische Angaben

  • Kai Witzlack-Makarevich, Nadja Wul (Hg.): Handbuch des Russischen in Deutschland. Migration – Mehrsprachigkeit – Spracherwerb. Berlin: Frank & Timme, 2019.
    Die gebundene Ausgabe (806 Seiten) kostet 98,00 Euro (ISBN 978-3-7329-0227-9), das Taschenbuch 49,80 Euro (ISBN 978-3-7329-0604-8) und das E-Book 108,00 Euro (ISBN 978-3-7329-9661-2).

Mehr zum Thema

rs