„Deutschlands bester Dolmetscher“ im Jahr 1932: Dr. Paul Schmidt vom Auswärtigen Amt

Paul Schmidt 1931
18. Juli 1931, Paris: Der französische Außenminister Aristide Briand (1), Ministerpräsident Pierre Laval (2), Dolmetscher Paul Schmidt (3), Außenminister Julius Curtius (4), Reichskanzler Heinrich Brüning (5) und Staatssekretär Bernhard von Bülow (6) auf der Veranda des Palais de la Présidence du Conseil. Schmidt war damals erst 32 Jahre alt, besaß aber schon 7 Jahre Dolmetsch-Erfahrung im Auswärtigen Amt. - Bild: Erich Salomon (gemeinfrei)

Die zunehmende Digitalisierung alter Zeitungs- und Zeitschriftenarchive fördert so manchen bislang ungehobenen Schatz zur Berufsgeschichte der Übersetzer und Dolmetscher zutage. Im Badischen Beobachter, dem „Hauptorgan der badischen Zentrumspartei“, haben wir in der Ausgabe vom 20. Januar 1932 ein Gespräch mit Dr. Paul Schmidt (1899 – 1970) entdeckt, dem damaligen Chefdolmetscher des Auswärtigen Amts.

Schmidt wurde später als „Hitlers Dolmetscher“ bekannt, arbeitete aber bereits seit 1923 für das Auswärtige Amt. Unter Außenminister und Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann wurde er zum Chefdolmetscher befördert und konnte bereits auf eine zehnjährige erfolgreiche Arbeit für demokratische Regierungen zurückblicken, als Hitler die Macht ergriff.

Nach dem Krieg war Schmidt fünfzehn Jahre Direktor des SDI München (1952 – 1967) und machte aus der Sprachenschule ein Institut zur Ausbildung von Übersetzern und Dolmetschern.

Das Interview ist in der Endphase der Weimarer Republik erschienen, ein Jahr bevor Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde. Heinrich Brüning von der Zentrumspartei war zu dem Zeitpunkt Reichskanzler und Julius Curtius von der nationalliberalen DVP Außenminister.

Paul Schmidt, Deutschlands bester Dolmetscher
Die eingescannte Ausgabe des Badischen Beobachters befindet sich im Archiv der Deutschen Digitalen Bibliothek. Wir haben den Text abgetippt, um ihn allgemein zugänglich zu machen.

Nachfolgend der Text im Wortlaut und in der originalen Absatzeinteilung. Wir haben lediglich relevante Namen fett hervorgehoben und bei der Dolmetscherin Agresti den vollständigen Namen in eckigen Klammern ergänzt.

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Deutschlands bester Dolmetscher

Aus den Notizblöcken Dr. Paul Schmidts. – Von Locarno bis Lausanne. – Die Technik des diplomatischen Dolmetschers. Wie es auf den großen Konferenzen zugeht.

Von Hans Bertun.

In der nächsten Zeit werden die großen Konferenzen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Die Staatsmänner wechseln, doch seit Jahren ist ein Mann bei solchen Verhandlungen unentbehrlich: Dr. Paul Schmidt, der Dolmetscher des Auswärtigen Amtes, der unserem Mitarbeiter außerordentlich bemerkenswerte Einzelheiten über die vertraulichen Unterredungen der Ministerpräsidenten und Außenminister mitteilte.

Mit einem liebenswürdigen Lächeln zieht Dr. Paul Schmidt, ein großer, breitschultriger Mann, eine Anzahl Notizblöcke aus einer Schublade: „Hier ist ein großer Teil der Reden aller europäischen Konferenzen seit 1924! Von Genua und Locarno bis zu jener Londoner Konferenz, die im vergangenen Sommer stattfand.“

Paul Schmidt
Dr. Paul Schmidt als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen.

Diese Notizblöcke sind das merkwürdigste Geschichtsdokument, das man sich denken kann. Sie bestehen aus einzelnen Worten, scheinbar sinnlos aneinandergereiht. Der Dolmetscher Dr. Schmidt erklärt: „Jedes dieser – übrigens nicht stenographierten – Worte ist das Stichwort für einen längeren Satz, den ein Staatsmann gesprochen hat und den ich in der Konferenz ins Englische oder ins Französische übersetzte. Das Stichwort genügt! Denn viel wichtiger, als in großer Hast jedes Wort mitzustenographieren, ist es, die Gestaltung, das Wesen dieses gesprochenen Satzes aufzunehmen und es in der anderen Sprache wiederzugeben. Das ist nicht einfach. Die Tatsache, daß man eine Rede, die vielleicht über eine Stunde gedauert hat, an Hand weniger Stichworte rekonstruieren muß, bildet noch die geringste Schwierigkeit. Viel schwerer ist es, in der anderen Sprache, die ganz andere Ausdrucksformen hat, das lebendige Wesen der Rede wiederzugeben. Zweifellos ist für einen Dolmetscher der großen Konferenzen die Sachkenntnis noch unentbehrlicher als die Sprachkenntnis. Man muß sich höllisch zusammennehmen, denn die Kritik ist nicht gerade sanft, wenn man einen Fehler macht. Es ist z. B. vorgekommen, daß Stresemann, wenn ich eine seiner deutschen Reden ins Französische übersetzte, mich plötzlich unterbracht und mich ganz öffentlich verbesserte!“

Die scharfe Beobachtung der Redner, die intensive Anteilnahme an allem, was gesprochen wird, bringen es mit sich, daß der Dolmetscher die großen Konferenzen miterlebt wie kaum ein anderer Mensch. Dr. Schmidt, der in großer Bescheidenheit seine Person im Hintergrund zu halten sucht, erzählt, wie er nicht nur in den Plenarsälen der Konferenzen jede Phase verfolgte, sondern wie er auch bei jenen entscheidenden Zusammenkünften zugegen war, bei denen sich zwei oder drei europäische Staatsmänner am Teetisch oder auf einer Autofahrt aussprachen. „Hier“, sagt er, „ist es am allerschwersten zu dolmetschen. Als Herr Dr. Brüning und der englische Ministerpräsident Macdonald in Chequers auf Liegestühlen beim Tee saßen, oder als sie sich abends am Kamin unterhielten, konnte ich doch nicht plötzlich einen Notizblock hervorziehen. Es hätte den Stil des Bildes, die Vertraulichkeit der Unterhaltung zerstört. Ich mußte daher ganz aus dem Gedächtnis dolmetschen. Nun spricht ja Dr. Brüning fließend englisch; aber gerade bei schwierigen Fachausdrücken wird doch eine Verdolmetschung notwendig. Macdonald fragte z. B. zwischendurch: „Was ist Umsatzsteuer?“ Die Erklärung muß mehr als fix gehen, denn gerade Macdonald stöhnt schon immer: Oh diese Dolmetscher!“

Bei diesen intimen Unterhaltungen hat es der Dolmetscher besonders schwer, denn diese Art der Diskussion zwischen erfahrenen Staatsmännern ist meist noch viel konzentrierter und anstrengender als die Debatte bei den großen Tagungen. Als Herr Briand in Berlin war und mit Herrn Dr. Curtius und mir als Dolmetscher durch die Stadt fuhr, bewunderte der französische Außenminister wohl einmal zwischendurch die sauberen breiten Straßen, das großzügige Stadtbild, aber von einem solchen „Zwischenfall“ glitt die Unterhaltung sofort wieder auf das Gebiet der grundsätzlichen Politik zurück. Dieser rasche Wechsel zwischen Persönlichem und Unpersönlichem, die Notwendigkeit, in unwahrscheinlich kurzer Zeit ein unwahrscheinlich großes politisches Pensum zu erledigen, schaffen eine Anspannung und Erschöpfung der Kräfte, von der sich ein Außenstehender gar keinen Begriff machen kann. Allerdings stellen wir immer wieder fest, daß gerade die deutschen Staatsmänner über ein außerordentliches Maß rein körperlicher Widerstandsfähigkeit verfügen, ohne die eine solche Konferenz nicht durchzuhalten ist.“

„Spürt man denn schon während der Konferenz diese Kraftanstrengung?“ – „Nein“, antwortet Dr. Schmidt, „die ganze Stimmung und die geladene Atmosphäre lassen keine Ermüdung aufkommen. Die Erschöpfung kommt erst noch. Während der Konferenz ist jeder, von der jüngsten Sekretärin bis zum Chef der Delegation, von derselben Spannung ergriffen. Und das wird, bei allen Delegationen, von Jahr zu Jahr schlimmer. Denn mit jedem Jahr wird die Sparsamkeit größer, die Delegation schrumpft zusammen, die Arbeitslast häuft sich immer mehr. Es ist tatsächlich so, daß die wenigen Sekretärinnen, die die Minister nach Lausanne begleiten, außer dem Bahnhof und dem Hotel nichts sehen werden. Tag und Nacht geht die Arbeit, fast ohne Unterbrechung. Und alle halten durch, weil auch die jüngste Sekretärin jede große Rede und jede Enttäuschung mit Spannung erwartet. Tatsächlich herrscht gerade in der deutschen Delegation ein sehr starkes Gemeinschaftsgefühl. Jede Delegation bildet eben ein Ganzes.“

„Abgesehen von den Ministern, die von Zeit zu Zeit wechseln, trifft man auf den großen Konferenzen immer dieselben Leute. Da ist der Engländer Maurice Hanken, der Generalsekretär der großen Konferenzen, der mit seinem Stab schon immer Wochen vorher da ist, die Hotels besorgt und den ganzen Ablauf der Konferenz organisiert. Er ist sehr klein, sieht so unenglisch wie möglich aus und lächelt immer. Seine Geschicklichkeit ist schon fast sagenhaft. Da sind meine Kollegen, der Franzose Mathieu, Professor Camerlinck und eine Frau, die jetzt nicht mehr zu den Konferenzen kommt, die mir aber als der bemerkenswerteste Dolmetscher am besten in Erinnerung geblieben ist: Frau [Olivia Rossetti] Agresti, die vom Italienischen ins Englische und zurück übersetzte, und die ein so phänomenales Gedächtnis besaß, daß sie auch die längsten Reden, die manchmal drei oder vier Stunden dauerten, ohne eine einzige Notiz völlig richtig in der anderen Sprache wiedergeben konnte. Auch sonst trifft man immer wieder dieselben Gesichter. Das Publikum hat sich an diese Atmosphäre gewöhnt. Wenn ein deutscher und ein französischer Staatsmann mit dem Dolmetscher, z. B. in einem Restaurant im Haag Platz nahmen, so drehte sich niemand mehr um. Das ist das Konferenzpublikum! Die Staatsmänner sind in dieser Umgebung völlig frei in ihren Bewegungen, sie sind ungezwungen, denn sie sind unter sich.“

Ohne die Beseitigung aller üblichen Hemmnisse wäre ein Durchhalten der Konferenzen oft nicht möglich. Die Ermattung würde schon während der Verhandlungen eintreten. Ich erinnere mich an so manche Völkerbundstagung, bei der die deutschen Minister die Nacht hindurch arbeiteten, bis zum Morgen, zum Beginn der Ratstagung. Wenn ich dann erlebte, wie der Außenminister jedes Wort der Rede, die vom Vertreter des anderen Landes gehalten wurde, abwog, in Gedanken die Antwort formte, ein paar schlecht verstandene Sätze durch ein paar Worte blitzschnell interpretieren ließ, so sah ich eine Arbeitsleistung, wie man sie sich kaum vorstellen kann. In solchen Augenblicken gibt es keine Krankheit. Wohl am meisten hat mich jene Stunde erschüttert, in der ich den zur Unterzeichnung des Kellog-Paktes nach Paris gekommenen deutschen Außenminister zu Poincaré begleitete. Stresemann war noch immer sehr krank, und der Arzt hatte ihm nur eine knappe Stunde für die Unterredung bewilligt. In der wichtigen politischen Diskussion verschwand jedes Krankheitszeichen aus Stresemanns Gesicht, solange, bis der Arzt Dr. Schulmann nach einer Stunde seine Karte zu Poincaré hereinschickte und der französische Staatsmann sich sofort erhob.“

Zum Schluß spricht Dr. Schmidt von der kommenden Konferenz, auf der es genug schwere Arbeit geben wird. „Allerdings sind“, so sagt er, „die klaren einfachen Sätze Dr. Brünings viel leichter zu verdolmetschen als die schwierigen Satzbauten und Wendungen von Stresemann und Curtius.“

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Aristide Briand, Gustav Stresemann
Gustav Stresemann (rechts) von der liberal-konservativen DVP war von 1923 bis zu seinem Tod 1929 Außenminister verschiedener Regierungen der Weimarer Republik und damit auch Dienstherr von Paul Schmidt. Stresemann engagierte sich besonders für eine Normalisierung der Beziehungen zu Frankreich. Gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand (links) erhielt er dafür 1926 den Friedensnobelpreis. Sein Wirken trug maßgeblich zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund bei, die 1926 erfolgte. Das Foto stammt ebenfalls aus dem Jahr 1926. – Bild: Niederländisches Nationalarchiv (gemeinfrei)

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Weiterführende Links

  • Paul Schmidt (1949): Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2014. Gedruckt nur noch antiquarisch und neu nur noch als E-Book für 14,99 Euro erhältlich, ISBN (E-Book) 978-3-86393-503-0. Auf Amazon ansehen/bestellen.
  • Italienischer Wikipedia-Eintrag zu Olivia Rossetti Agresti, der Dolmetscherin mit dem „phänomenalen Gedächtnis“. Eine Frau mit bewegter Geschichte.

Richard Schneider