Literatur-Nobelpreis für Annie Ernaux – zur Freude ihrer deutschen Übersetzerin Sonja Finck

Annie Ernaux
Mit Annie Ernaux erhält dieses Jahr ein auch in Deutschland bekannter Name den Nobelpreis. Anders als in den beiden Vorjahren kann der Buchhandel daher lieferbare Übersetzungen präsentieren. - Bild: Niklas Elmehed

Der Nobelpreis für Literatur geht 2022 an die französische Autorin Annie Ernaux (82), wie heute in Stockholm mitgeteilt wurde. Das freut auch ihre deutsche Übersetzerin Sonja Finck, die nun mit Interview-Anfragen der Medien bombardiert werden dürfte.

Übersetzer werden in solchen Fällen gerne als Sachverständige und Experten herangezogen, denn niemand kriecht so tief in die Psyche eines Autors und liest dessen Texte so genau – oft genauer als der Autor selbst. Und so führte der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) noch am selben Nachmittag ein Telefoninterview mit Finck:

Titel von Annie Ernaux
Die bei Suhrkamp erhältlichen Ernaux-Titel, übersetzt von Sonja Finck.

Ernaux wird bei Suhrkamp verlegt und von Finck übersetzt

Anders als in den beiden Vorjahren, als mit Louise Glück und Abdulrazak Gurnah zwei in Deutschland völlig unbekannte Autoren ausgezeichnet wurden, liegen für Annie Ernaux zehn Übersetzungen ihrer zweiundzwanzig größeren Werke vor und sind lieferbar. Der Buchhandel kann also aufatmen und muss nicht mehr mit den Achseln zucken oder improvisieren.

Sieben der aktuell auf Deutsch lieferbaren Ernaux-Werke sind ab 2016 bei Suhrkamp erschienen und wurden von Sonja Finck übersetzt bzw. neu übersetzt. Ein weiterer Titel (Sich verlieren / Se perdre) wurde 2003 bei Goldmann herausgebracht, übersetzt von Gaby Wurster.

Noch in diesem Monat und pünktlich zur Frankfurter Buchmesse kommt Das andere Mädchen auf Deutsch heraus. Kurzfristig hat Suhrkamp auch noch mit Der junge Mann das jüngste und nur 37 Seiten schmale Werk der Autorin in die Übersetzung gegeben. Es soll im März 2023 erscheinen.

Sonja Finck
Sonja Finck – Bild: Véronique Souzy

Die aktuellen Ernaux-Titel bei Suhrkamp in der Reihenfolge ihres Erscheinens:

  • 2017: Die Jahre (Les années, 2008), 255 Seiten
  • 2018: Erinnerung eines Mädchens (Mémoire de fille, 2016), 163 Seiten
  • 2020: Der Platz (La place, 1983), 95 Seiten
  • 2021: Die Scham (La honte, 1997), 110 Seiten
  • 2021: Das Ereignis (L’événement, 2000), 104 Seiten
  • 2021: Eine Frau (Une femme, 1987), 88 Seiten
  • 2022: Das andere Mädchen (L’autre fille, 2011), 80 Seiten
  • 2023: Der junge Mann (Le jeune homme, 2022), 37 Seiten im Französischen

Frühere Übersetzerinnen vor Finck waren Barbara Scriba-Sethe (2015 verstorben), Regina Maria Hartig und Gaby Wurster (ohne Anspruch auf Vollständigkeit).

Mats Malm
Der Literaturhistoriker und Übersetzer Mats Malm tritt am 6. Oktober 2022 als Ständiger Sekretär und Sprecher der Schwedischen Akademie vor die Presse. – Bildschirmfoto
Mats Malm
Er verkündet, dass der Nobelpreis für Literatur Annie Ernaux zuerkannt wurde. Die französische Schriftstellerin wurde im Feuilleton schon länger als eine mögliche Kandidatin gehandelt. – Bildschirmfoto

Kein Gelaber, sondern klare Worte

Man kann Ernaux als Feministin und ihre Werke als Frauenliteratur und Nabelschau bezeichnen. Wer deshalb aber „das übliche Gesülze“ erwartet, wird angenehm überrascht sein: Die Sprache der Nobelpreisträgerin ist schnörkellos und nüchtern, aber wahrscheinlich gerade deshalb eindringlich. Die Sätze sind kurz und aller überflüssigen Adjektive beraubt, die Texte sehr gut lesbar. Kein laber, laber, laber, sondern zack, zack, zack. Wie bei einem schnell geschnittenen Film ohne langatmige Schwenks.

Vielleicht kommt Ernaux auch deshalb oft mit weniger als hundert Seiten aus, weil sie ihre Texte sprachlich so stark verdichtet. Das andere Mädchen hat nur 80 Seiten, Eine Frau 88 Seiten und Der Platz 95 Seiten.

Für alle, die sich einlesen möchten: Leseproben der bereits erschienenen Werke finden sich auf der Website des Suhrkamp-Verlags.

Finck hat in Düsseldorf Literaturübersetzen studiert

Mit dem Nobelpreis für Annie Ernaux rückt nicht nur ihre Übersetzerin ins Rampenlicht, sondern ein wenig auch deren Ausbildungsstätte.

Der Master-Studiengang „Literaturübersetzen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf kann sich nun rühmen, eine Nobelpreis-Übersetzerin hervorgebracht zu haben und als Lehrbeauftragte zu beschäftigen. Finck studierte von 1998 bis 2004 in Düsseldorf mit einem Auslandssemester in Madrid. Der Studiengang wurde 1987 eingerichtet, damals als Diplomstudiengang.

Die Düsseldorfer Dozentin Dr. Vera Elisabeth Gerling, selbst Absolventin dieses Studiengangs, twitterte nicht ohne einen gewissen Stolz:

Tweet von Vera E. Gerling

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