Kolossaler Übersetzungsfehler: Nord-Stream-Pipeline durch Sprengstoff in Pflanzenform zerstört?

Explosion
Bild: Gerd Altmann / Pixabay

Laienübersetzer in den Medien sorgen immer wieder für Heiterkeit in der Übersetzungsbranche. Einen der lustigsten Übersetzungsfehler der letzten Jahre hat jetzt der so genannte Faktenfinder der ARD produziert, der seine Beiträge auf der Website der Tagesschau publiziert.

Dabei geht es um den zurzeit Aufsehen erregenden Artikel „How America Took Out The Nord Stream Pipeline“ des amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh. Der Faktenfinder weist auf einige Ungereimtheiten in der Recherche des Investigativ-Journalisten hin.

Sprengstoff „in Form von Pflanzen“?

Ein Argument ist dabei der Vorwurf, Hersh habe behauptet, die USA hätten bei der Zerstörung der deutsch-russischen Gasinfrastruktur Sprengstoff „in Form von Pflanzen“ verwendet. Unter der Zwischenüberschrift „Sprengstoff in Pflanzenform unwahrscheinlich“ wird kritisiert:

Hersh schreibt, die Taucher hätten den plastischen Sprengstoff C4 „in Form von Pflanzen auf den vier Pipelines mit Betonschutzhüllen“ platziert.

Um die Absurdität dieser Aussage zu untermauern, kontaktierte der verantwortliche ARD-Redakteur sogar einen Sprengstoff-Experten, der einen Lehrauftrag am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) innehat. Dieser erklärte, die Behauptung von Seymour Hersh, der Sprengstoff sei in Pflanzenform angebracht worden, sei „abenteuerlich“. Der Faktenfinder zitiert den Sachverständigen mit den Worten:

„Die Nord Stream 2-Gasleitung wurde kürzlich fertiggestellt, und ein etwa 300-kg-Pflanzenbewuchs hätte entsprechend Zeitvorlauf für das Wachstum benötigt und dürfte daher nicht zur Tarnung geeignet sein“, sagt [der Sprengstoff-Experte].

Auch die Art der Pflanzengestaltung werfe dabei Fragen auf. „Dicke Baumwurzeln – in etwa 80 Meter Wassertiefe wohl eher unwahrscheinlich – lassen sich zwar mit plastischem Sprengstoff modellieren. Bei der Nachbildung filigranerer Strukturen wie zum Beispiel Seegras besteht die Herausforderung, den sogenannten Grenzdurchmesser des Sprengstoffs nicht zu unterschreiten.“

Mit plastischem Sprengstoff modellierte Baumwurzeln? Wozu? In 80 Metern Tiefe kommen eher selten Spaziergänger mit Hund vorbei. Eine Tarnung ist überflüssig.

Spätestens an dieser Stelle hätte man vor Veröffentlichung des Beitrags innehalten und sich den englischen Ausgangstext noch einmal ansehen müssen. Was steht denn da eigentlich?

„The divers […] would dive […], and plant shaped C4 charges on the four pipelines“

Der kritisierte Autor schreibt (hier der gesamte Absatz, Hervorhebung von UEPO):

The Norwegian navy was quick to find the right spot, in the shallow waters of the Baltic sea a few miles off Denmark’s Bornholm Island. The pipelines ran more than a mile apart along a seafloor that was only 260 feet deep. That would be well within the range of the divers, who, operating from a Norwegian Alta class mine hunter, would dive with a mixture of oxygen, nitrogen and helium streaming from their tanks, and plant shaped C4 charges on the four pipelines with concrete protective covers. It would be tedious, time consuming and dangerous work, but the waters off Bornholm had another advantage: there were no major tidal currents, which would have made the task of diving much more difficult.

Aha, plant ist hier gar kein Substaniv („Pflanze“), sondern ein Verb, das in diesem Zusammenhang „platzieren“ oder „anbringen“ bedeutet.

Und shaped charges sind so genannte „Hohlladungen“, die eine besonders hohe und gezielt gerichtete Durchschlagskraft besitzen. Sie eignen sich besonders zum Durchschlagen von Panzerungen. Die gleiche Technik wird in Form von Schneidladungen auch beim Abriss von Gebäuden eingesetzt, wenn Betonpfeiler oder Stahlträger durchtrennt werden müssen.

Mit dieser Korrektur der Übersetzung fällt die gesamte Argumentation, der vermeintlich spinnerte Autor habe von pflanzenförmigen Sprengladungen gesprochen, in sich zusammen.

Mit Google Translate übersetzt?

Interessant ist, dass sich der Übersetzungsfehler mit dem Google Übersetzer reproduzieren lässt. Die Maschine erkennt die Wortart von plant nicht korrekt und übersetzt den Ausdruck mit pflanzenförmigen C4-Ladungen.

Google Translate
Bild: UEPO.de

Die Konkurrenz von DeepL schneidet im direkten Vergleich wieder einmal besser ab. Bei den Kölnern heißt es:

[…] die von einem norwegischen Minenjäger der Alta-Klasse aus mit einem Gemisch aus Sauerstoff, Stickstoff und Helium aus ihren Tanks tauchen und C4-Sprengladungen an den vier Pipelines anbringen würden, […]

Faktenfinder korrigiert Übersetzung und formuliert eine Anmerkung

Erst nach Hinweisen von aufmerksamen Lesern begreift der Redakteur des öffentlich-rechtlichen Senders, dass er sich eine grandiose Fehlübersetzung geleistet hat. Immerhin wird der Lapsus wenig später korrigiert und mehrere Absätze entfallen:

Anmerkung: In einer früheren Version war von Sprengstoff „in Form von Pflanzen“ die Rede. Dabei handelte es sich um einen Übersetzungsfehler. Hersh schreibt von „plant shaped C4 charges“. Das Wort „plant“ ist in diesem Fall jedoch nicht mit „Pflanze“ zu übersetzen, sondern mit „platzieren“. Der Absatz wurde korrigiert.

Spott auf Twitter: Vielleicht waren es Granatäpfel? Oder Knallerbsen?

Der „Faktenfinder“ der Tagesschau, der nicht nur zu Corona-Zeiten oft als Framing-Portal der Regierung wahrgenommen wurde, hat nicht wenige Kritiker. Und so ist die Übersetzungspanne ein gefundenes Fressen für Spötter.

Auf Twitter wird darauf hingewiesen, dass er mit seiner These von der Sprengkraft der Vegetation durchaus Recht haben könne. Möglicherweise seien bei der geheimen Aktion der Amerikaner und Norweger Granatäpfel oder Knallerbsen zum Einsatz gekommen.

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Richard Schneider