An der Universität Heidelberg besteht seit 1933 am heutigen Institut für Übersetzen und Dolmetschen (IÜD) der älteste Dolmetscher-Studiengang Europas.
Weniger bekannt ist die Vorgeschichte des Instituts. Es wurde 1929 an der Handelshochschule Mannheim aufgebaut und erst später nach Heidelberg verlegt.
Über die offizielle Einweihungsfeier im Sommer 1930 in Mannheim erschien am Folgetag ein ausführlicher Artikel in der Lokalzeitung, den wir nachfolgend in von uns sorgfältig korrigierter Digitalisierung wiedergeben. Die Absatzeinteilung und die Zwischenüberschriften entsprechen dem Original.
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Das erste Dolmetscher⸗Institut – in Mannheim!
Einweihungsfeier in der früheren Reiß⸗Villa – Das Programm des neuen Unternehmens – Ausbildung zum Wirtschaftsdolmetscher
Zwei Vorträge und ein Experiment
Am Vormittag des gestrigen Freitags beging die Handelshochschule im festlichen Musensaal des Rosengartens ihre Jahresfeier, der Nachmittag galt der Eröffnung und Einweihung des
Institutes zur sprach⸗ und wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung von Dolmetschern,
das in den neuausgestatteten und zweckmäßig eingerichteten Räumen der Reißvilla in E 7 untergebracht ist. Das Dolmetscherinstitut, das bereits mit Beginn des Sommersemesters mit einem englischen und französischen Kurs seine einzigartige Tätigkeit erfolgreich begonnen hat, steht unter der Leitung von Prof. Dr. Glauser, einem langjährigen Vorkämpfer der wissenschaftlichen Dolmetscherausbildung, stellvertretender Direktor ist der Privatdozent der romanischen Sprachen Dr. Gutkind, ein Dolmetscher, der als Neuphilologe in Deutschland einen bedeutenden Ruf besitzt. Mit herzlichen Worten begrüßte Prof. Dr. Glauser die Schar der Ehrengäste, die sich nachmittags 5 Uhr in der Reiß⸗Villa eingefunden hatten. Es sei ihm, so betonte der Redner, ein Bedürfnis, mit dem Gefühle aufrichtiger, tiefempfundener Dankbarkeit der Förderer dieses Gebäudes zu gedenken. An erster Stelle als Gönnerin stehe dabei die Stadt Mannheim, Oberbürgermeister Dr. Heimerich habe sich mit seiner ganzen Persönlichkeit für die Errichtung dieses Institutes eingesetzt. Mit dem gleichen dankbaren Gefühle müsse auch der Handelskammer Mannheim und der Handelskammer Ludwigshafen sowie der Bankvereinigung Mannheim gedacht werden. Nicht zuletzt habe das Reichsministerium der guten Sache kräftige Unterstützung zuteil werden lassen. Das Institut, dem bereits 41 Studierende angehören, sei das erste seiner Art in Europa und Amerika. Der Weg, den es gehe, sei von praktischen Bedürfnissen vorgezeichnet.
„Freie Bahn dem Tüchtigen“
heiße es, denn zum Sprachstudium müsse auch Eignung vorhanden sein.
Aus dem reichen Schatze seiner Erfahrungen berichtete nun Professor Dr. Glauser, wie er auf die Idee, eine wissenschaftliche Dolmetscherausbildung zu schaffen, gekommen sei und wie er schon seit dem Jahre 1912 unermüdlich und rastlos an dem Werke, das nun endlich habe errichtet werden können, gearbeitet und praktische Untersuchungen angestellt habe. Dem Vaterlande zu dienen und dem Tüchtigen zu helfen, mit diesem Grundsatze sei er an die gewiß nicht leichte Aufgabe herangegangen und in diesem Sinne wolle er das Institut leiten, wenn ihm von Reich, Land, Stadt, Industrie und Handel allezeit die notwendige Unterstützung zugesagt werde.
Diese aufklärenden Darlegungen fanden zustimmenden Beifall. Wenn Prof. Dr. Glauser in seinen Ausführungen allen Freunden und Gönnern der guten Sache für die Unterstützung dankte, wollen wir hier an dieser Stelle nicht vergessen, daß sich Prof. Dr. Glauser als der ideelle Schöpfer des Werkes ein bleibendes Andenken gesetzt hat.
Anschließend hielt der Privatdozent Dr. Gutkind einen anschaulichen Vortrag über
„Wesen und Bedeutung des modernen Wirtschaftslebens“
dem wir folgendes entnehmen:
Stehen sich zwei Gesprächspartner verschiedener Sprachkreise gegenüber, deren keiner die Sprache des anderen kennt, so bleibt die Verständigung auf Mimik, Geste und Laut beschränkt. Die Verständigung wird demnach auch im Elementaren stecken bleiben. Kennt der eine Gesprächspartner durch bestimmte individuelle Schulung die Sprache des andern, so hängt die Verständigung von zwei wesentlichen Faktoren ab: 1) von dem Ausmaße der Kenntnisse in der Fremdsprache und 2) von der Fähigkeit den eigenen Denkprozeß in der fremden Sprache so zum Ausdruck zu bringen, daß er vollinhaltlich von dem fremden Partner wird. [sic!] Die Frage der Fähigkeit des Umdenkens aus der eigenen Sprache wird akut. Und Umdenken heißt, den eigensprachlichen Denkprozeß mit den teilweise ganz verschiedenen Mitteln der Fremdsprache lückenlos verständlich zu machen. Wie steht es nun aber wenn nicht alltägliche Dinge, Spezialia Fachliches behandelt wird? Wenn Wirtschaftler, Juristen, Industrielle sich an den Verhandlungstisch setzen? Wir dürfen ruhig sagen, daß in den allerseltensten Fällen hier eine Möglichkeit unmittelbarer Verhandlung gegeben ist. Eine Hilfskraft muß in Erscheinung treten, die die lückenlose und einwandfreie Verständigung übernimmt und die Brücke schlägt:
Der Interpret, der Dolmetscher.
Er ist die Persönlichkeit, die fähig sein muß, bei welchem Thema auch immer, fachlich oder nicht fachlich, das Hinübertragen von einer Sprache zur andern vollinhaltlich und den jeweiligen Sprachgesetzen entsprechend zu vollziehen.
Dolmetschen ist mehr als nur Uebersetzen. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Fähigkeit, flott in einer Fremdsprache zu korrespondieren oder zu parlieren, auch einen fremdsprachlichen Schrifttext zu übertragen und der Fähigkeit zum Dolmetschen. Ein einfacher Korrespondent, ein Uebersetzer von Schrifttexten kann sich Zeit zu seiner Aufgabe lassen, darf alle möglichen lexikalischen und sonstigen Hilfsmittel verwenden. Gerade das Moment der Zeit und der reiflichen Ueberlegung ist dem Dolmetscher nicht gestattet. Er muß in der Lage sein, jederzeit als Korrespondent und Uebersetzer zu wirken, aber über die Kenntnis der eigenen und der fremden Sprache hinaus wird von ihm überdies noch die Fähigkeit verlangt, eine Gedankenreihe aus der einen in die andere Sprache umzudenken, und zwar unmittelbar, sofort nachdem sie von dem Dritten gesprochen worden ist, der den Dolmetscher braucht. Der Dolmetscher muß in der Lage sein, nicht nur fremdsprachliche Rede zu verdeutschen oder umgekehrt – was viel schwieriger ist -, oder aber eine doppelsprachige Diskussion den Diskussionsteilnehmern, die verschiedenen Sprachkreisen angehören, verständlich zu machen, sondern er muß auch fähig sein, diese Rede in die von den Rednern oder Diskussionsteilnehmern zur Betonung ihrer Gedanken, Bekämpfung von Vorschlägen, Beimischung von Möglichkeiten, Andeutungen über andere Lösung, in jeder Form, behauptend, fragend, bezweifelnd, bespöttelnd, drohend, schmeichelnd usw. angewendeten Mittel in der anderen Sprache in gleicher Klarheit, Betonung, mit gleichen Mitteln wiederzugeben, soweit dies überhaupt von Sprache zu Sprache möglich ist.
Weiterhin muß der Dolmetscher aus seiner Kenntnis der fremdländischen Psyche heraus in der Lage sein, gewisse unbeabsichtigte Verstöße seines eigenen Partners in seiner Uebertragung zu glätten und dadurch Fehler zu vermeiden verstehen, die unter Umständen die Gesamtverhandlung aufs schwerste schädigen könnten.
Diese Grundüberzeugung und das Bedürfnis, diesem Mangel abzuhelfen, leiten das Ausbildungsprogramm des neugegründeten Instituts zur sprach⸗ u. wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung von Dolmetschern. Eine selbständige, offizielle Ausbildungsstelle für Dolmetscher in der Verbindung von sprachlichen und wirtschaftlichen Disziplinen existierte bisher weder in Deutschland, noch in Europa noch auch in Amerika.
Es ist das erste seiner Art,
wie wir mit einigem Stolz sagen dürfen. Es verfolgt das Ziel, der staatlichen internationalen Arbeit, deren Bedarf jedoch verhältnismäßig gering ist, weiterhin dem Gerichtswesen, vor allem aber dem Handel und der Industrie sprachlich und wirtschaftlich geschulte, nach wissenschaftlichen Grundsätzen und in systematischer Methodik ausgebildete Dolmetscher für Französisch und Englisch, späterhin auch – so wagen wir zu hoffen – auch für Spanisch, in einer Art Dolmetschertraining heranzubilden.
Hauptaufgabe des Institutes ist es, Wirtschaftsdolmetscher heranzubilden
Man wird einwenden, daß im allgemeinen ein Betrieb es sich nicht wird leisten können, ausdrücklich zum Dolmetschen eine Sonderkraft einzustellen. Aber ist nicht ein dergestalt ausgebildeter Dolmetscher auch gleichzeitig Auslandskorrespondent und Schrifttextübersetzer? Bei der Einstellung auch der Auslandskorrespondenten und Uebersetzer hatten sich Industrie und Handel bisher im wesentlichen von Zufallskriterien leiten lassen. Im besten Fall hat ein solcher Auslandskorrespondent tatsächliche Auslandspraxis hinter sich, die immerhin eine gewisse Gewähr für verhältnismäßig einwandfreie Erledigung der Aufgaben bot. Meistens aber begnügte man sich mit Kräften, die gerade einen Handelskorrespondenzkursus oder eine Berlitz⸗School⸗Ausbildung genossen hatten, ohne je das Ausland gesehen zu haben.
Diesem Mangel hofft das neue Institut nach und nach zu steuern. [sic!] Es will dem Handel und der Industrie systematisch geschulte Korrespondenten und Uebersetzer stellen, es will Handel und Industrie Kräfte heranbilden, die durch mindestens einsemestriges obligatorisches Studium an einer ausländischen Handelshochschule oder Volkswirtschaftlichen Fakultät und längeren freien Aufenthalt in dem betr. Fremdland mit Gepflogenheiten und Wesen des fremden Volkes vertraut sind. Darüber hinaus aber will es Handel und Industrie, der Internationalen Arbeit und dem Gerichtswesen die Dolmetscher liefern, deren Fach⸗ und Sprachenkenntnis bei den ständig sich mehrenden internationalen Verhandlungen der deutschen Wirtschaft erfolgreich zu dienen vermag.
Gleichsam zur Bekräftigung seiner Ausführungen, die übrigens in den Rundfunk übertragen wurden, ließ Dr. Gutkind seinen Vortrag von einem seiner Schüler, der nach zweimonatlicher Tätigkeit bei ihm die Prüfung ablegte, dem Doktorand für romanische Philologie an der Universität Heidelberg, Beck, ins Französische übertragen, ein Experiment, das nicht nur Ianganhaltenden Beifall auslöste, sondern auch zeigte, was ein Dolmetscher leisten soll und muß.
Handelskammerpräsident Lenel sprach beiden Rektoren, Prof. Dr. Selz und Prof. Dr. Glauser, für ihre mühevolle Arbeit zum Gelingen des Werkes herzlichen Dank aus und wies nochmals auf die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Ausbildung von Dolmetschern hin. Mit einer Besichtigung der Räume des Institutes fand die Einweihungsfeier ihren Abschluß.
Die Räume der Reißvilla sind im wesentlichen in ihrer alten Gestalt und Ausgestaltung erhalten geblieben. Eine reichhaltige Bibliothek und eine Radioanlage, die neu errichtet wurde, dienen dem Zwecke des Institutes.
Dem Vaterland zu dienen, dem Mutigen zu helfen, möge sich dieser Wunsch an dem Werke von internationaler Bedeutung hinfort erfüllen.
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Hochschulausbildung für Dolmetscher seit 1754 in Wien, seit 1887 in Berlin
Noch wesentlich älter als der Heidelberger Studiengang sind die 1754 von Maria Theresia gegründete „Kaiserlich-königliche Akademie der Orientalischen Sprachen“ und das 1887 an der damaligen Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin eingerichtete „Seminar für orientalische Sprachen“.
Da diese vorwiegend Dolmetscher bzw. Dragomane für den diplomatischen Dienst herangebildet haben, werden sie aus der Historie der Dolmetscherinstitute – zu Unrecht – oft ausgeklammert.
Das in Mannheim gegründete und dann nach Heidelberg verlegte Dolmetscher-Institut ist in Europa die älteste „moderne“ Ausbildungsstätte auf Hochschulebene. Sie war schon so konzipiert wie alle heutigen Studiengänge für Übersetzer und Dolmetscher.
- 2022-07-12: Andreas F. Kelletat: Gutkind und die Anfänge der Dolmetscher-Ausbildung in Mannheim 1929
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Richard Schneider