Red T hat sich Mitte Juli 2019 in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt. Die gemeinnützige Organisation appelliert an die Bundesregierung, eine Gruppe afghanischer Sprachmittler in Deutschland aufzunehmen, die sich seit einem Jahr in Mazar-i-Scharif um eine Ausreise bemüht. Die Betroffenen arbeiten als Dolmetscher für die Bundeswehr und hatten bereits vor dem Bundeswehrlager Marmal für ihr Anliegen demonstriert.
Die Bundeswehr hat sich bis Ende 2014 insgesamt 13 Jahre am ISAF-Einsatz (International Security Assistance Force) beteiligt. Seit 2015 nimmt sie mit bis zu 1.300 Soldaten an der Aktion „Resolute Support“ teil, die 2020 ausläuft. Seit 2001 haben insgesamt mehr als 90.000 deutsche Soldaten in Afghanistan gedient. Mehr als 60 sind dabei gefallen.
Insgesamt hat die Bundeswehr im Verlauf des ISAF-Einsatzes, der doppelt so lange wie der Zweite Weltkrieg gedauert hat, rund 1.400 afghanische Hilfskräfte beschäftigt. Darunter befanden sich rund 600 Dolmetscher, die als besonders gefährdet galten, da sie von den Taliban als Verräter und Kollaborateure angesehen werden.
Bis 2014 hat Deutschland hat bereits 547 afghanische Sprachmittler samt Familienangehörigen aufgenommen, insgesamt 903 Personen.
Dolmetscher gehören zu am stärksten gefährdeten zivilen Ortskräften an Kriegsschauplätzen
Dem Aufruf von Red T haben sich zehn weitere Verbände der Übersetzungsbranche wie FIT und AIIC sowie das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte angeschlossen.
Das auf Englisch verfasste Schreiben in deutscher Übersetzung:
Juli 2019
Frau Dr. Angela Merkel
Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Straße 1
10557 BerlinBetr.: Ersuchen um Gewährung einer sicheren Zufluchtsstätte
Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin,
die Unterzeichneten internationalen Übersetzer- und Dolmetscherverbände sowie die ihnen nahestehenden Menschenrechtsorganisationen danken Ihnen aufrichtig für die teilnahmsvolle Flüchtlingspolitik, die Sie in den letzten Jahren verfolgt haben. Ferner begrüßen wir die umfassenden Bemühungen Ihrer Regierung zur Aufnahme afghanischer Dolmetscher, deren Leben aufgrund ihrer früheren Tätigkeit für die Bundeswehr oder andere deutsche Organisationen in Gefahr war.
Allerdings gibt es immer noch eine kleine Gruppe von Sprachmittlern, die sich verzweifelt um humanitären Schutz bemüht. Seit fast einem Jahr nehmen sie das Risiko auf sich, ihr Anliegen durch Demonstrationen vor dem Bundeswehrlager Marmal in Mazar-i-Scharif öffentlich kundzutun.
Ihre Regierung hat dieses Thema in der Antwort Nr. 19/5454 vom 2. November 2018 auf die Kleine Anfrage des Bundestages Nr. 19/4988 vom 15. Oktober 2018 behandelt. Da die Demonstrationen jedoch weiterhin anhalten, gehen wir davon aus, dass die in Punkt 4 und 17 der Antwort genannten Kommunikationsmethoden nicht den erwünschten Erfolg brachten.
Insbesondere herrscht bei den Protestierenden Unklarheit über bestimmte Aspekte der Visabeantragung und des Beschwerdeverfahrens. Wenn beispielsweise eine Ablehnung wegen Sicherheitsbedenken erfolgt, wird eine Beschwerde praktisch unmöglich, weil nicht genügend Klarheit über die Gründe der Ablehnung herrscht. Da Dolmetscher während ihrer gesamten Einsatzzeit ständig alle Sicherheitskriterien erfüllen müssen, ist eine Ablehnung aus Sicherheitsgründen auch schwer nachvollziehbar.
Des Weiteren erscheint uns die rückläufige Zahl der erteilten Visa bedenklich, was u. E. auf eine exzessive Anwendung der Gefährdungseinschätzung „Keine individuelle Gefährdung“ hindeutet. Das Gegenteil ist der Fall. Laut den neuesten Leitlinien zur Beurteilung der internationalen Schutzbedürftigkeit von Asylbewerbern aus Afghanistan des UNHCR gehören die lokalen zivilen Dolmetscher zu den am stärksten gefährdeten zivilen Ortskräften an Kriegsschauplätzen.
Auch das Auswärtige Amt der Bundesregierung kam in seinem Lagebericht zu Afghanistan vom 25. Juli 2018 zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Dort heißt es, dass ausländische Streitkräfte sowie ihre Verbündeten prioritäre Ziele der Aufständischen sind. Gemäß einem Zitat aus einer öffentlichen Erklärung der Taliban-Führung „wird man sich neuer, komplexer Taktiken bedienen, um amerikanische Invasoren und ihre Unterstützer zu zermalmen, zu töten und gefangen zu nehmen“.
Daher richten wir die dringende Bitte an Ihre Regierung, diese Gefahr, insbesondere angesichts des Wiedererstarkens der Taliban, anzuerkennen und die in § 22 des Aufenthaltsgesetzes garantierten Rechte auch zu gewähren, nach denen einem Ausländer aus „dringenden humanitären Gründen“ eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, die Unentbehrlichkeit von Sprachmittlern bei Missionen in Konfliktzonen und im Nachgang zur Bewältigung der Folgen dieser Konflikte kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden.
Als internationale Gemeinschaft professioneller Dolmetscher und Übersetzer hoffen wir, dass Sie weitere Möglichkeiten finden, um auf die Demonstranten von Camp Marmal zuzugehen, sodass sie auf schnellstem Weg nach Deutschland und damit in Sicherheit gebracht werden können.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Maya Hess, Präsidentin, Red T
Linda Fitchett, Vorsitzende, Gruppe Dolmetscher in Konfliktgebieten, International Association of Conference Interpreters (AIIC)
Kevin Quirk, Präsident, International Federation of Translators (FIT)
Aurora Humarán, Präsidentin, International Association of Professional Translators and Interpreters (IAPTI)
Angela Sasso, Präsidentin, Critical Link International (CLI)
Debra Russell, Präsidentin, World Association of Sign Language Interpreters (WASLI)
Maurizio Viezzi, Präsidentin, Conference Internationale Permanente d’lnstituts Universitaires de Traducteurs et Interpretes (CIUTI)
Annette Schiller, Vorsitzende, FIT Europe
Ivana Bucko, Präsidentin, European Forum of Sign Language Interpreters (EFSLI)
Daniela Perillo, Präsidentin, European Legal Interpreters and Translators Association (EULITA) Pascal Rillof, Präsident, European Network for Public Service Interpreting and Translation (ENPSIT)
Marcus Grotian, Vorsitzender, Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V.Kopie:
Herr Horst Seehofer, Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat
Frau Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung
Herr Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen
Red T engagiert sich seit 2010 für den Schutz von Sprachmittlern
Die gemeinnützige Organisation mit Sitz in New York wurde 2010 von Maya Hess und einigen Mitstreitern gegründet. Hess ist seitdem Geschäftsführerin. Red T setzt sich für den Schutz von Sprachmittlern in Kriegsgebieten und Krisenregionen sowie für politisch verfolgte Übersetzer ein. Die meisten aktiv Mitwirkenden sind Angehörige der Übersetzungsbranche.
Die Arbeit der Red-T-Mitarbeiter erfolgt ehrenamtlich, sonstige Ausgaben werden von Spendengeldern gedeckt. Der Name Red T wurde analog zum „Roten Kreuz“ gebildet. Das T steht für Translatoren, also Übersetzer und Dolmetscher.
Seit der Gründung von Red T (und Translators without Borders, TWB) besitzt die Übersetzungsbranche eigene Hilfsorganisationen. Die steuerlich abzugsfähigen Spendengelder der großen Übersetzungbüros verbleiben so innerhalb der Branche und kommen unmittelbar der Berufsgruppe zugute.
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Weiterführende Links
[Text: Richard Schneider.]